Er saugte sich an seinem Mangosaft fest, den Strohhalm umklammernd. „Meine Frage ist verrückt, ich weiß es, doch ich musste sie einfach stellen.“
„Verrückt? Warum meinst du, dass sie verrückt ist?“
„Doch ich hätte sie besser vielleicht erst in einer Stunde gestellt…
Oder nach zwei.“
Er zog an einer seiner welligen Haarsträhnen über dem Ohr. „Versteh – auch wenn du mich auslachst: Ich musste dir diese Frage stellen.
Ich malte mir eben aus, wir verabschieden uns, später nach dem Essen – und ich hätte die Frage nicht gestellt! ich hätte sie in der Aufregung einfach vergessen…! Ich würde es für den ganzen Rest meines Lebens bereuen.
Du lachst mich nicht aus?“
„Dich auslachen? Warum sollte ich das?“
Sie saß eingehüllt in dies Lächeln, es war kein Lachen, schon gar kein Auslachen. Was immer er fragen würde – ein Auslachen kannte sie nicht.
Der Kellner brachte das Tablett mit dem Essen, wieder mit kerzengeradem Gang. Neben den Tellern baute er eine ganze Batterie von Gewürzen auf und murmelte jeweils einen Namen dazu.
Iris nickte jedes Mal und bedankte sich.
Hendrik ruckte auf seinem Stuhl in die Höhe, es war ein Versuch, sich wieder auf seinen klaren Verstand zu besinnen.
Das Essen war gut gewürzt. Doch jede der kleinen Gewürzdosen verbarg ein weiteres eigenes Duftgeheimnis, es wäre Verschwendung gewesen, es nicht auszuprobieren, Hendrik ließ auf jeden Löffel einen neuen kleinen Duftregen nieder.
Alles war Seligkeit.
Der Mangosaft war es und diese Gewürze waren es. Die milde Augustabendluft war es.
Die Augen von Iris waren es.
Ihr Nicken. Ihr Lächeln.
Durch den vorderen Garten war eine Schnur mit Lampions gespannt, jetzt in der zunehmenden Dämmerung des Augustabends hatte der Kellner sie angezündet und die bunten Lichter wiegten im Wind.
Von der halb offenen Restauranttür kam Musik: meist der Gesang einer hohem Frauenstimme mit den leicht verzitternden Tönen eines indischen Gesangs, manchmal in ein dunkles geheimnisvolles Timbre wechselnd.
Hendrik und Iris sprachen im Flüsterton. Ihre Köpfe waren näher und näher zusammengerückt.
„An diesen zwei Federn kannst du mich immer erkennen,“ sagte sie.
„Ja. An diesen zwei Federn.
Und an den Augen.“
„Und an den Augen.“
Er hatte ihr von all seinen Reisen erzählt, durch Europa, durch Asien, durch Nordamerika. Nach dem Abitur hatte er zwei Jahre als Weltenbummler verbracht. Iris lauschte mit wachen leuchtenden Augen. Er berichtete auch von den traurigen Dingen: dem frühen Tod seiner Großeltern bei einer Bergwanderung. Er berichtete vom Tod seines Schwagers. Und dass er jetzt nach Frankfurt gekommen sei, um aufzuklären, was tatsächlich passiert sei. Es war da ein übles Spiel gegen seine Schwester in Gang, er habe es bereits aufgedeckt und er werde jetzt für Gerechtigkeit sorgen.
Vier Stunden waren inzwischen vergangen. Fünf Mangosaftgläser hatten sie leer getrunken.
Hendrik spürte keine Zeit. Seine Sätze sprudelten. Immer wieder tauchte er ein in diese Glocke von Seligkeit und von Trance, die über ihnen lag. Es gab keine Zeit.
Der Kellner meldete sich. Er kündigte an, das Restaurant werde in Kürze geschlossen.
Hendrik wollte für Iris zahlen, doch sie wehrte ab.
Seine Finger spielten auf ihren, ihre spielten auf seinen. Über ihnen lag diese Glocke von Trance.
„Gib mir deine Telefonnummer,“ sagte er jetzt. Er schob ihr die Serviette mit dem Namen ‚Iris’ zu.
Sie nickte, lächelnd, schrieb die Nummer auf die Serviette.
Hendrik griff die Serviette und las die Nummer laut vor sich hin.
„Hendrik.“ Ihre Stimme hatte plötzlich einen ernsten Unterton. „Du sprichst von deinem Aufenthalt hier in der Stadt – dass du für Gerechtigkeit kämpfen willst, für deine Schwester.
Ich will dich nicht unnötig ängstigen. Doch sei vorsichtig bei dem, was du tust.
Ich will dich nicht ängstigen. Doch die Gefahr könnte größer sein, als du annimmst.“
„Ich habe ein Beweisstück, ich habe es bei mir.“ Er griff nach dem Handy in seiner Jacke. „Die Sache ist bereits so gut wie gewonnen.
Du meinst, ich könnte leichtsinnig sein?“
Der Kellner mahnte wieder zum Aufbruch, den Satz zweimal mit einer Entschuldigung unterbrechend.
Hendrik hätte sie gern mit seinem Auto zu ihrer Wohnung gefahren. Doch dieses Auto stand mit plattem Vorderreifen vor einer fremden Pension.
Iris nahm ihr Handy aus der Jackentasche und rief ein Taxi.
„Ich erkenne dich,“ sagte Hendrik. „Mit oder ohne Feder. Ich erkenne ich, weil du du bist.
Ich werde dich überall und immer erkennen.“
Er zog den Kopf aus der großen gemeinsamen Glocke der Trance zurück.
Das Taxi war eingetroffen.
Iris stand auf, ihre Blicke schweiften zum Taxi, dann trat sie dicht neben ihn und umarmte ihn.
Lange. Innig. Fest.
Sie löste sich und ging auf das Taxi zu.
Hendrik spürte, er müsse etwas tun, um diesen Augenblick festzuhalten.
Er zog sein Handy.
Es sollte unbemerkt geschehen.
Er wollte allein dieses Bild: Wie sie mädchenhaft leicht und grazil auf das Taxi zulief.
Da, als er abdrückte, drehte sie sich ihm noch einmal zu. Der Fotoblitz des Handys leuchtete voll in ihr Gesicht.
Das hatte er nicht zu fragen gewagt: ob er zum Abschied ihr Gesicht fotografieren dürfe.
Jetzt war es passiert.
Ihr Gesicht war ins Handy gebannt.
Er prüfte es gleich: Kein Ausdruck von Überrumpelung oder Abwehr hatte sich eingeschlichen. Sie lächelte frei und offen in sein Handy hinein.
Jetzt hörte er, wie sie dem Taxifahrer das Wort „Eschborn“ zurief. Die Tür schlug zu.
Hendrik griff die Serviette, faltete sie klein zusammen und verstaute sie in seinem Portmonee. Nie war etwas ähnliches Kostbares dort verwahrt worden, und er allein wusste es.
Hinter dem Taxifenster winkte eine Hand. Das Taxi verschwand im Dunkel der Nacht.
x x x x
Hendrik lehnte glücklich, wie benommen noch eine Zeit lang am Zaun.
Er trat den Weg zurück zur Mainbrücke an, er schwebte fünf Zentimeter über dem Boden dabei, immer nach wenigen Schritten machte er Halt und ließ auf dem Display seines Handys das Gesicht von Iris aufleuchten.
Er tanzte, taumelte durch die nächtlichen Straßen. Er war das personifizierte Glück.
Jetzt stand er am Brückengeländer, unter ihm rauschte Väterchen Main, das Licht der Straßenbeleuchtung versilberte die Wellen, manche funkelten sogar geheimnisvoll auf, dazwischen gab es Oasen von lichtlosem Schwarz, doch es überwogen die versilberten Wellenstraßen.
Die Straße war um diese Zeit schon menschenleer, nur im Minutentakt kreuzte nochmals ein Auto auf und war mit schnellem Rauschen verschwunden.
Er fasste den Entschluss, die Telefonnummer auf der Serviette in sein Handy zu übertragen. Er hatte eben das Portmonee aus seiner Tasche gezogen und es auf dem Brückengeländer abgelegt, als auf seiner Straßenseite hinter ihm zwei grölende Motorradfahrer auftauchten. beide mit einer Flasche am Mund, aus der sie jetzt einen letzten Schluck nahmen.
Sie hatten sich die Mainbrücke ausgeguckt, um sich der Flaschen zu entledigen, der eine ließ sie in hohem Bogen über das Geländer fliegen, das versuchte mit fröhlichem Grölen jetzt auch der andere, wobei seine Flasche nach dem niedrig angesetzten Wurf doch nur ans Geländer prallte und dort zersplitterte. Hendrik hob schützend die Hand vors Gesicht, sein rechter Ellbogen war auf das Geländer gestützt, instinktiv machte er einen Schritt zurück, der Ellenbogen schob das Portmonee mit sich, dann hörte Hendrik seinen platschenden Aufschlag auf den Fluten des Mains. Er blickte hinab. Noch etwa eine halbe Minute hielt sich das Portmonee auf den Wellen, trieb mit der Strömung fort. Dann war es verschwunden.
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