Er wechselte jetzt ganz an ihren Tisch, hielt den aufgerissenen Ärmel umklammert. „Also, ein indisches Gewürz. Genau wie ich dachte.“
Er lächelte sie an.
Sie hatte ein kleines Muttermal gleich neben dem linken Ohr, wie er jetzt entdeckte.
„Ich heiße Hendrik.“ Er rückte nochmals wenige Zentimeter näher.
Sie lächelte, nickte.
„Ich bin das erste Mal hier in diesem Restaurant,“ sagte Hendrik. „Eigentlich war ich unterwegs, um einen Kreuzschlüssel zu besorgen. Sie verstehen? Man braucht ihn, um die Schrauben an einem Reifen zu wechseln. Durch die beiden Kreuzarme hat man eine starke Hebelwirkung damit.
Plötzlich stand ich vor diesem Gartenrestaurant.
Ja.“ Er rieb sich über das Kinn. „Also, ich heiße Hendrik.
Wollen wir nicht einfach ‚du’ zueinander sagen?“
Sie nickte, lächelte.
Er wartete.
Unverändert lag dieses Lächeln um ihr Gesicht, ausgebreitet noch darüber hinaus, ein eigener Glanz, von dem die Luft des warmen Augustabends heimlich zu funkeln schien.
„Es ist hübsch – dieses kleine indische Restaurant,“ sagte Hendrik.
Noch vor ein paar Tagen bin ich in Indien gewesen. Eine Geschäftsreise. Ein Geschäftsfreund wollte mich anschließend eine Woche lang bei seiner Familie einquartieren, jeden Tag Urlaub, jeden Tag indisches Essen.
Dann kam es anders. Ich musste zurück.
Ja. Und nun sitze ich hier. In einem indischen Restaurant.
Darf ich dich etwas fragen?“
Der Kellner näherte sich von der Restauranttür. Ein schlanker junger Inder mit etwas hohlen Wangen doch durchgebogenem Rückgrat und kerzengeradem Gang.
„Mildes Korma,“ sagte die junge Frau.
„Mildes Korma,“ sagte Hendrik.
Der Kellner notierte es.
„Zum Nachtisch Rasgulla, mit viel Zitrone.“
„Zum Nachtisch Rasgulla,“ sagte Hendrik.
„Etwas zu trinken?“ fragte der Kellner.
„Mangosaft,“ sagte die junge Frau.
„Mangosaft,“ sagte Hendrik.
Der Kellner entfernte sich.
„Ob auch ich Indien kenne – das wolltest du fragen?“ sagte die junge Frau.
„Genau. Eben das wollte ich fragen.
Woher wusstest du das?“
„Ich las es in deinem Kopf.
Doch es war nicht schwierig. Du wolltest nur eine Antwort darauf, warum ich mich so gut auskenne mit indischen Speisen.“
„Das war es, ja.
Es verblüffte mich.
Ich hatte drei Geschäftsessen. Doch meinst du, es hätte mir jemand gesagt, was wir da essen?
Einmal vertat ich mich mit den Gewürzen. Mein Rachen brannte, dass ich minutenlang hustete.
Ich wollte mir das Gewürz merken, um es für mich auf eine schwarze Liste zu setzen. Doch ich hab keinen Schimmer mehr, was es war.
Du warnst mich – wenn etwas sehr Scharfes, Gefährliches kommt?“
Die junge Frau lächelte, nickte.
„Ich habe vergessen, dich nach deinem Namen zu fragen,“ sagte Hendrik. „Du sagst mir deinen?“
„Gern,“ sagte die junge Frau. „Doch eigentlich ist es ganz leicht. Du musst ihn nur lesen.
Er ist schon in deinem Kopf.“
„In meinem Kopf?“
„Ich habe ihn dir schon vor Minuten geschickt.
Ich schicke ihn dir ein zweites Mal.“
„Du meinst, weil auch du es konntest – eine Frage in meinem Kopf lesen?“
„Du kannst es ebenfalls.
Ich weiß es.“
Sie meinte es ernst.
„Namen sind etwas anderes.“ Hendrik schüttelte den Kopf. „Es können Tausende sein.“
„Doch nur wenige gibt es, die passen.
Versuch es einfach!
Du wirst erstaunt sein über dich selbst.“
Hendrik schüttelte noch immer den Kopf.
„Du hast einen Stift?“ fragte sie.
„Einen Kugelschreiber.“ Er zog ihn aus der Jacke.
Sie reichte ihm eine der roten Servietten. „Schreib zehn Namen auf, die du kennst.
Dann sage ich dir, welcher der richtige ist.“
„Er wird dabei sein?
Es werden alle die völlig verkehrten sein.“
„Schreib einfach, was dir so durch die Hand strömt. Grüble nicht.
Du kannst es. Du musst nur einfach den Mut dazu haben.“
Hendrik begann einen ersten Namen zu schreiben. Dann einen zweiten. Dann einen dritten. Einen vierten. Einen fünften.
Es war nur ein wirres Kritzeln, so fühlte er. Es strömte nichts. Er schob die Serviette zur Seite. Er war nicht gemacht für ein solches Spiel.
„Gut. Ändern wir es,“ sagte die junge Frau. Sie griff eine neue Serviette. „Gib mir den Stift.
Ich schreibe zehn Namen. Und du kreuzt den einen an, der der richtige ist.“
„Du glaubst, so wird es funktionieren?
Bitte, können wir es auf sechs Namen beschränken?“
„Gut. Dann sechs Namen.“
„Nein, besser nur vier.
Ich bin grottenschlecht im Gedankenlesen, besonders wenn es um Namen geht.
Können wir es nicht beschränken auf zwei?“
„Gut, zwei Namen.
Dann nehme ich zwei Servietten.
Auf jede schreibe ich einen Namen und du wählst die, die die richtige ist.“
Sie begann zu schreiben. Kein Winkelzug in ihrem Gesicht gab den leisesten Hinweis.
Der Kellner kam mit einem kleinen Tablett.
Henrik streckte die Hand nach der einen Serviette aus, einen Moment lang meinte er, sich seiner Sache sicher zu sein, dann trat Verwirrung in seine Hand.
Wieder wollte er zugreifen, als ein plötzlicher Windstoß sie erfasste und vom Tisch trug.
Der Kellner stellte die Gläser mit dem Mangosaft ab.
Hendrik griff nach der liegengebliebenen Serviette, er drehte sie um und las den Namen „Iris“.
Er hielt ihr die Serviette mit dem Namen hin.
„Das Essen kommt in wenigen Minuten,“ sagte der Kellner. „Wollen Sie viel Curry und scharf? Oder wenig Curry und wenig scharf?“
„Ein bisschen scharf,“ sagte die junge Frau, „nicht zu sehr scharf.“
„Nicht zu sehr scharf,“ sagte Hendrik.
Der Keller entfernte sich wieder.
Die junge Frau lächelte die Serviette an.
„Also – ich habe es richtig getroffen?
Ich spürte es. Zunächst bevorzugte ich die andere Serviette. Aber da war ein falsches Kribbeln in meinen Finger. So habe ich noch einmal gewechselt.
Gut. Jetzt weiß ich, dass du Iris heißt.
Und auch in Indien bist du gewesen.
Hast du indische Freunde dort?“
„Viele und gute Freunde, ja.
Meine Mutter ist Inderin.“
„Oh! Warum sieht man es nicht?“
„Du meinst –: die braune Haut und die dunklen Haare? – Nein, die habe ich nicht abgekommen.“
„Dein Vater ist deutsch?“
„Meinen Vater kenne ich nicht.“
„Du sprichst ein perfektes Deutsch.“
„Das spricht auch meine indische Mutter.“
„Und du – sprichst du indisch mit ihr?“
„Beides. Wir wechseln, immer nach Stimmung.“
Sie trug eine Bernsteinkette, in die eine Feder eingearbeitet war. Eine eher schmucklose Feder, weiß mit kleinen Punkten von Grau und Rot. Hendrik entdeckte eine solche Feder jetzt auch in ihrem Haar, etwas versteckt, von einer kleinen Spange gehalten.
„Du trägst eine Feder im Haar?“
„Ja, eine Feder.“
„Kann man fliegen damit?“
„Gewiss.“
„Braucht man zum Fliegen nicht eine Ganzfederausstattung? von Kopf bis Fuß?“
„Nein, es genügen zwei.“
„Davon habe ich immer geträumt,“ sagte Hendrik.
„Vom Fliegen?“
„Ja, vom Fliegen.“
„Mit dem Träumen fängt alles an.“
„Du heiratest mich?“
„Wann?“
„Morgen?“
„Morgen? – Das ist sehr bald.“
„Ist es zu rasch?
Ich warte auch eine Woche.“
Sie wiegte den Kopf. Wieder dies Lächeln, ein unwiderstehlicher, sie umströmender Duft.
„Wenn du ein halbes Jahr sagst, warte ich auch ein halbes Jahr.
Auch ein Jahr, wenn du sagst: ein Jahr.“
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