Rainer grinst schief und verkriecht sich mit seiner runden Wampe wieder in der kleinen Werkstatt. Ulrich zuckt kurz mit dem Kopf, dann marschiert er über die kalten Marmorstufen. Seine Wohnung liegt im zweiten Stock und genau dort sollte gegenüber seines Appartements ein neuer Mieter einziehen. Umzugsgeräusche sind noch keine zu hören. Der größte Lärm dringt derweilen aus dem ersten Stock.
„...den ganzen Tag“, hört Ulrich dumpf. Es ist Erich, der in der Wohnung mit seiner Tochter streitet.
„Der Radio läuft sogar wenn du in der Schule bist!“
Ulrich passiert die Eingangstüre, daneben das Klingelschild mit `Erich Einweg`.
„Dann dreh doch du ihn ab“, entgegnet Promesia. In ihrer Stimme wohnen Rebellion und Kritik an ihrem männlichen Elternteil, der sich an legitimen Ausweichmanövern bedient.
„Ach! Und neben dem Radio lagen Kondome! Die Kondome! Du bist 14!“ Mehr kann Ulrich nicht mehr hören, will er aber auch nicht. Beinahe hätte er in all dem Trubel vergessen, was ihm eben beim Nachhauseweg eingefallen ist!
Er hatte bewusst einen Umweg genommen, um mal etwas anderes zu sehen und seinen Gedanken dort freien Lauf gelassen. Er kam an einem Fußballplatz vorbei, an großen Werbeflächen und an zahlreichen Ampeln. Und siehe da.
Es wirkte.
„Eins. Zwei. Drei. Vier.“ Ulrich zählt sich im Geiste wieder die Anzahl der Ideen auf, die er vorhin beim Gehen hatte. Er weiß sie noch. Er hat sie nicht vergessen. Schnell läuft er nach oben, nimmt immer gleich zwei Stufen auf einmal und rammt seinen Schlüssel fest ins Schloss. Umdrehen. Ulrich reißt die helle Türe auf, lässt seine Schuhe an den Füßen und rennt zum Computer, der noch im Standby ist.
„Moment...“, sagt er sich. Die Wohnungstüre steht noch ein wenig offen, er läuft zurück, schließt sie sanft und öffnet anschließend das Schreibprogramm, um seine Gedanken nun endlich zu sichern und die Angst des Vergessens selbst einfach vergessen zu dürfen.
„Mein Sohn“, schreibt Ulrich. „Willst du wirklich rebellieren, so lauf nicht über Rot. Nein, mein Kind, halte vor Grün.“
Und er schreibt weiter.
„Bei Grün kann man es tun,
denn sie halten opportun.
Denn im Gehege der Regel scheint auch der Geselle ganz helle.“
Die selbst ausgedachten Aphorismen kleben noch in seinen grauen Zellen und lösen sich Einer nach dem Anderen während er rhythmisch auf die Tastatur klopft.
„Erziehung erfolgt durch Gesellschaft.
Und Gesellschaft wird geformt vom Kollektiv, von Religionen und geführt von Staaten.
Grün, gehen. Rot, stehen. Wer sich im vorgegebenen Takt bewegt, wir sehr schnell weit kommen. Wer ihn nicht einhält wird entweder ständig ausgebremst oder beseitigt.
Der Rassismus wird ausgelebt von uns allen.
Jeder fiebert bei einem beliebigen Sportereignis, in dem die Nationen untereinander konkurrieren, immer für die Athleten seines Landes und/oder Mutterlandes. Wir reduzieren die Sportler demzufolge also nur auf ihre Nationalität, ohne einen weiteren Eindruck von ihnen zu erhalten. (Hinweis für Überarbeitung: Nicht zu sehr verallgemeinern. Aber Kern stimmt)“
„Puh.“ Ulrich atmet tief durch und klickt auf `Speichern`. Er hat die Gedanken, die beim Gehen entstanden sind, gesichert.
„Fürs ganze Werk vielleicht nicht relevant, aber... Ach, egal.“ Er faltet die Hände auf dem Bauch und lehnt sich zurück. „Es wird niemanden jucken“, sagt Ulrich zu sich selbst, grinst und kratzt sich am Hinterkopf.
„Ich habe mein Schuhwerk noch nicht abgelegt...“ Ein jeder Schritt fällt leicht, als er zur Ablage geht. Da dringt eine tiefe, angestrengte Männerstimme durchs Türholz. Ein gewisser osteuropäischer Akzent ist nicht zu verkennen und bewegt Ulrich dazu, neugierig ins Treppenhaus zu spähen.
„Oh nein“, denkt er sich, als er seinem vermeintlich neuen Nachbar in die Augen sieht.
Der grimmige Blick eines Bullen vor der Schlachtung, die wirre Frisur eines Bernhardiners vor der Reinigung und die lückenhaften Zahnreihen eines Neunjährigen. Ulrich muss ihn auch gar nicht riechen, um zu wissen, dass er nach Fett und Schweiß stinkt. Und einen verrückten Köter hat er, so wie er aussieht, mit Sicherheit auch.
„Hallo. Ich bin Ulrich“, presst er höflich und laut hervor.
„Ach ja?“ Etwas verstört von des Mannes herablassender Antwort ringt Ulrich nach Worten der Fassung, da drückt sich eine zweite Ausgabe dieses Typus Mensch über die Stufen. Er schleppt einen Karton und steht seinem Freund bezüglich der Mimik in nichts nach.
„Hallo“, versucht es Ulrich erneut. Diesmal erhält er eine freundlichere Antwort.
„Hallo. Sie wollen helfen?“
„Na ja“, meint Ulrich zögerlich, aber entschließt sich dann schnell dazu, sich den neuen Nachbarn wohlwollend zu präsentieren.
„Ja. Will ich.“
„Komm“, meint der Andere, lässt seinen Freund in die Wohnung und begleitet Ulrich nach unten.
„Und sie sind ein... Ein Paar“, fragt er zaghaft.
„Ich verstehe nicht.“
„Egal. Egal. Haben sie einen Hund?“
„Was?“ In der schlechten Rasur des Mannes kann man die letzten Mahlzeiten lesen.
„Hund?“ Ulrich kneift seine Augen zusammen. „Wuff! Wuff!“
Der neue Hausbewohner schüttelt genervt den Kopf.
„Ja, sehr gut. Kein Hund.“
Nun, da er ihm so nahe ist, scheint er sich getäuscht zu haben. Der neue Nachbar riecht nicht annähernd so furchtbar, wie es Ulrich erwartet hatte. Er folgt ihm weiter die Stufen hinab und konzentriert sich auf die ausgefransten Hosenenden des Mannes, da reißt ihn ein sympathisch warmes „Hallo“ aus seinen Gedanken und von den Fersen des Mannes.
Eine grazile Frauenhand streckt sich vor seinen Körper und Ulrich schüttelt sie.
„Ich glaube wir sind neue Nachbarn. Sie wohnen ja hier, oder?“
„Sie... Ich.“ Ulrich blickt verdutzt in das Gesicht der Frau.
„Ja“, sagt er und beginnt zu realisieren. „Wir wohnen sogar im selben Stockwerk.“
„Sehr schön. Wie heißen sie?“ Ihre Nasenspitze ist so gerade und klein wie der Punkt auf seiner Tastatur. Ihre Augen und ihre Haare so braun wie die Schokolade, die er im Winter so gerne gegessen hat. Und die kleinen Grübchen, die es sich beim Grinsen in ihrem freundlichen Gesicht gemütlich machen, saugen ihn förmlich ein.
„Ulrich. Ich heiße Ulrich.“
Das peinlich berührte, stumme Lächeln beginnt. Und es dauert vier Sekunden bis die hübsche Frau gnädigerweise unterbricht.
„Ich schlepp´ dann mal weiter.“
„Ja.“
Und während Ulrich sich langsam fragt, ob er die nette Frau fragen sollte, inwiefern ihr seine Hilfe beim Schleppen gelegen käme, wanderte er schon wieder nach unten.
„Ich wollte ja dem Mann helfen. Dem... Dem Möbelpacker! Damit helfe ich auch ihr! Klar!“ Erquickt von seiner späten Erkenntnis sprintet er nach unten ins Erdgeschoss. Auf dem schmutzigen Boden dort klingt es häufig so, als würde man auf Sand spazieren.
„Und? Was sagst jetzt“, klingt Rainers Stimme plötzlich von hinten. Der Hausmeister grinst schief.
„Warum sagst du mir nicht gleich, dass da eine scharfe Bombe einzieht?“
„Na weil ich sie explodieren sehen will“, meint Rainer.
„Sag mir alles was du über sie weißt.“ Ulrich redet schnell.
„Nicht viel.“
„Ja was denn?“
„Sie heißt Maria de Lima. Ist zur Hälfte Brasilianerin.“
„Maria de Lima“, wiederholt Ulrich. „Zur Hälfte Brasilianerin. Und weiter?“
„Na ja, ich schätze mal die untere Hälfte, also bei dem zünftigen Arsch.“
„Mehr weißt du nicht?“
„Mehr weiß ich nicht“, sagt der Hausmeister mit einem Zwinkern und verdrückt sich wieder.
„He.“ Ulrich dreht sich zur bekannten Stimme. Der Möbelpacker wankt mit einem Karton in den Händen an ihm vorbei und macht ihn mit einer gezielten, aber unauffälligen Kopfbewegung auf den Kleintransporter an der Straße aufmerksam, dessen Inhalt sie in die Wohnung Marias schleppen.
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