»Schon gut!«, fauchte Rübennase. »Ich hab’s verstanden! Ab jetzt nenne ich dich beim Namen. Aber nur, wenn du deinem Drachling befiehlst, die Pleitegeier in Ruhe zu lassen. Sollten die Grelgins nämlich das Vogelgeschrei hören, haben wir sie schneller an der Backe, als wir ›Halbriesen lieben Kobold-Ragout‹ sagen können.«
»Abgedingst«, gluckste Pennyflax und pfiff nach Fauch, der jedoch nicht daran dachte, mit der Geierjagd aufzuhören. Er pfiff zwei weitere Male, ermahnte Fauch mit gespielter Ernsthaftigkeit und wurde schließlich von Minky angerempelt.
»Psst! Rrruhe!«, schnarrte der Rotzling, der längst seinen Regenmantel abgelegt und gegen eine bunte Flickenjacke aus Rottes Altkleiderbündeln eingetauscht hatte. »Da ist ein Geräusch, das sich nach ’nem Stöhnen anhörrrt!«
Shirah unterbrach ihre Haarpflege, bei der sie Harz in ihre Zöpfe schmierte, um sie zum Abstehen zu bringen. »Ja, jetzt höre ich’s auch! Klingt noch fieser als das Grunzen eines Trolls … und ist gar nicht so weit weg!«
»Könnte der Wind sein, der in den vermaledeiten Knochen heult«, vermutete Pennyflax, zückte aber zur Sicherheit seine Zwille.
»Das ist nicht der Wind«, knurrte Rübennase finster. »Das ist ein Grelgin! Jetzt wird’s ernst, Leute!« Der Hüne packte die Zügel fester und ließ die Pferde Tempo aufnehmen. Er steuerte die Kutsche nach rechts über eine Anhöhe, da er das Stöhnen links vermutete, wo ein baumdicker Armknochen die Sicht blockierte. Als er jedoch über die Hügelkuppe preschte, wurde das Stöhnen und Grunzen lauter, und das rechte Auge von Rotte Rübennase weitete sich: Unter ihm, am Fuß des Hügels, lag ein Riesenschädel von der Größe eines Hauses zur Hälfte im Sand vergraben. Doch daneben stand ein muskelbepacktes, zweiköpfiges Monstrum, das nur einen Lendenschurz trug, mit dem Fuß im Gebiss des Schädels feststeckte und vor Schmerz stöhnte.
In dem Moment, als die Kutsche den Hügel hinab schoss und Rotte die Pferde nicht mehr kontrollieren konnte, wurde der vier Meter große Grelgin auf das Gespann aufmerksam. Die beiden haarlosen Köpfe des Halbriesen fuhren herum, sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich, und er stieß ein markerschütterndes Brüllen aus, das sämtliche Pleitegeier aufscheuchte.
Doch auch die Pferde bekamen Todesangst. Sie brachen aus und zogen die Kutsche in eine so plötzliche Kurve, dass die Räder auf der linken Seite vom Sandboden abhoben. Noch während Pennyflax, Shirah und Minky aufschrien, kippte der Wagen um und alle Insassen purzelten heraus.
Die vier Gefährten kullerten den Hang hinunter, genau auf den Grelgin zu. Sie überschlugen sich etliche Male, wirbelten kiloweise Knochenstaub auf und blieben nur wenige Meter vor dem Monstrum liegen. Durch sein Gewicht war Rübennase am weitesten gerollt und befand sich somit in nächster Nähe zu der zweiköpfigen Kreatur, die vor Wut kochte und wie ein Baum vor ihm aufragte.
Der Grelgin erblickte den Mensch am Boden und versuchte, den lästigen Wurm mit seinem rechten Fuß zu zermalmen. Weil sein linker Fuß aber im Gebiss des Riesenschädels feststeckte, glichen seine Bemühungen einem Hüpfen, welches ziemlich komisch wirkte. Das ärgerte den Halbriesen noch mehr. Rasend vor Zorn brüllten seine beiden Köpfe auf, und er griff nach einer Wurzelkeule, die bis jetzt an dem Schädel gelehnt hatte. Eine Keule, die fast so groß war, wie er selbst.
Rübennase stand noch unter Schock und bemerkte gar nicht, wie ihm der Sand aus der Augenklappe rieselte. Er konnte nur zu dem Muskelberg hinauf starren, dessen Stampfen den Boden erzittern ließ. Als er jedoch die riesige Keule auf sich herab rauschen sah, kam er augenblicklich auf die Beine. »DECKUNG!«, schrie er und hechtete in letzter Sekunde zur Seite. Das rettete ihm das Leben, denn die Wurzelkeule des Halbriesen krachte mit einer solchen Wucht zu Boden, dass Steinsplitter wegspritzten und ein Loch entstand.
Obwohl Pennyflax, Shirah und Minky aus der Gefahrenzone geflitzt waren, stolperten sie wegen der Erschütterung des Schlags. Sogar Fauch traute sich nicht, bei seinem Herrchen zu landen und fauchte die Bedrohung aus der Luft an.
Unterdessen erlangte Shirah das Gleichgewicht wieder und glaubte, den Grund für die Wut des Grelgins zu erkennen: Eine tiefe Schnittwunde klaffte an seiner linken Wade, die durch das Feststecken im Gebiss des Riesenschädels verursacht worden war. Dunkelrotes Blut quoll aus der Wunde und hatte im Sand bereits eine Pfütze gebildet. Weil sich die Koboldin in ihrer Eigenschaft als Heilerin mit dem Behandeln von Wunden auskannte, kam ihr natürlich die Idee, der bedauernswerten Kreatur zu helfen. Deshalb zog sie eine Salbe sowie Verbandzeug aus ihrem Kräuterbeutel und näherte sich vorsichtig dem tobenden Grelgin.
»WAS MACHSTE DENN DA?!«, schrie Pennyflax, als er sah, dass sie sich in Lebensgefahr begab. »Den kannste nicht verarzten … der tritt dich platt wie ’ne Flunder!« Da der Kobold aber wusste, wie stur seine Freundin manchmal war, legte er vorsorglich mit seiner Zwille auf das Monstrum an, damit er sie im Notfall verteidigen konnte.
»Tu ihm nix! Muss es wenigstens versuchen!«, rief Shirah über die Schulter und bezweifelte in dem Moment selbst, ob sie an den Halbriesen herankam. Denn dieser stampfte umher wie ein wild gewordenes Mammut auf zwei Beinen.
Rotte sprang auf die Füße. »Lass es lieber bleiben!«, keuchte er und griff ebenfalls nach den zwei Dolchen an seinem Gürtel. »Der Grelgin ist zwar noch nicht ausgewachsen, aber trotzdem tödlich!«
Shirah hörte einfach nicht auf die beiden. Irgendwie hatte sie das Gefühl, das Richtige zu tun, wenn sie diesem armen Geschöpf half. Und da sie sich beim Tod ihrer Eltern vor Jahren geschworen hatte, nie wieder ein Wesen durch eine Verletzung oder Krankheit sterben zu lassen, würde sie keine Ausnahme bei dem Grelgin machen. Außerdem wollte der Halbriese Shirah und ihre Freunde nicht angreifen, weil er ein Bösewicht war, sondern weil er Schmerzen oder Angst verspürte. Wenn sie ehrlich war, fand sie diesen zweiköpfigen Muskelberg sogar ganz süß, mit seinen Stupsnasen, den buschigen Augenbrauen und den großen Ohren – auch wenn alles doppelt vorhanden war. Sogar seine blaugraue Haut gefiel ihr, die von einigen kreisförmigen Tätowierungen verziert wurde.
Hätte der Grelgin nur nicht so herumgetobt. Doch Shirah fiel etwas ein. Sie hatte schon oft davon gehört, wie beruhigend Musik auf wütende Personen wirkte. Deshalb holte sie eine Flöte aus ihrem Beutel hervor, die ihr ein guter Bekannter vergangenen Sommer geschenkt hatte. Das Besondere an dem Holzinstrument war, dass es immer schöne Melodien spielte und zudem Pflanzen wachsen lassen konnte. Es handelte sich also um eine magische Flöte, die Shirah nun an die Lippen setzte und hinein blies.
Als der Grelgin die Melodie hörte, verharrte er und sperrte alle vier Ohren auf. Er hatte noch nie etwas Ähnliches vernommen und war sofort fasziniert von den betörenden Klängen. Sein Gebrüll wurde zu einem Grunzen, dann einem Schnauben, und obwohl er aus Unsicherheit noch einen Moment mit seiner Keule fuchtelte, verpuffte seine Wut. Schließlich legte er beide Köpfe schräg und ließ die Keule sinken, um wie verzaubert der Flötenmelodie zu lauschen.
Während die Koboldin weiterspielte, näherte sie sich behutsam dem Halbriesen, bis sie vor ihm stand und sein verwundetes Bein untersuchen konnte. Es steckte nach wie vor im Gebiss des Riesenschädels fest, dessen Zähne tatsächlich die Schuld an der Verletzung trugen. Die mächtigen Kiefer waren scheinbar zugeschnappt, als der Grelgin draufgetreten war, doch er hatte sie trotz seiner Bärenstärke nicht mehr öffnen können. Shirah brauchte jedoch keine Muskelkraft, um die Kiefer auseinander zu drücken, denn sie hatte ihre Flöte. Sie änderte die Melodie ihres Spiels, wodurch man auf einmal die Töne zu sehen vermochte, die sie dem Instrument entlockte. Wie ein Glitzerregen schwebten die Klänge auf den haushohen Riesenschädel zu und funkelten um eine Schlingpflanze herum, die aus einer der Augenhöhlen wuchs. Sogleich begann sich die Pflanze zu bewegen und rankte sich hinab, wo sie sich um den Kiefer schlängelte. Immer dicker wurden die Ranken der Schlingpflanze und immer dichter wickelte sie sich um das Gebiss, bis sie schließlich eine solche Kraft aufbrachte, dass sie die Kiefer auseinander drückte.
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