Nun waren deutlich Schreie zu hören.
Schreie des Entsetzens, des Zorns und der Todesnot.
Maratuk rannte und konnte bereits die Kuppel des Lagers erkennen, als die Stille einsetzte.
Er verharrte entsetzt.
Unschlüssig lauschte er und seine Hände krampften sich um die Stiele seiner Äxte.
Nichts war zu hören, außer seinem heftigen Atem.
Das war nicht gut.
Nein, es war sogar ein sehr schlechtes Zeichen.
Seine Gefährten waren überfallen worden, daran gab es keinen Zweifel. Hätten sie den Feind bezwungen, dann wäre ihnen Maratuks Abwesenheit aufgefallen, und er müsste die Stimmen hören, mit denen sie nach ihm riefen.
Niemand rief nach ihm.
Er starrte zu der Kuppel hinüber, die im Schneetreiben kaum zu erkennen war. Langsam setzte er sich wieder in Bewegung, bereit, seine Äxte in Blut zu tauchen. Er wusste, dass er niemandem mehr beistehen konnte, doch er musste in Erfahrung bringen, wer für die Bluttat verantwortlich war. Schnee bedeckte ihn, und Zwerge waren ohnehin von kleiner Statur, das mochte ihm helfen, sich vor den Blicken der Mörder zu verbergen.
Schließlich war er nahe genug, um Einzelheiten erkennen zu können.
Gestalten bewegten sich am Lager. Viel zu groß, um Zwerge zu sein, und zu viele, um gegen sie zu kämpfen. Maratuk sah sofort, dass es sich um fremde Wesen handelte. Plumpe Gestalten, von Kopf bis Fuß mit dichtem Fell bedeckt. Dennoch war offensichtlich, dass es sich nicht um Tiere handelte. Sie hatten Wachen aufgestellt und durchsuchten systematisch das Lager, einige sprachen miteinander. Maratuk konnte die Laute nicht verstehen.
Wer waren diese Wesen und woher kamen sie?
Warum hatten sie die friedlichen Zwerge überfallen und gnadenlos abgeschlachtet?
Maratuk sickerten Tränen über die Wangen, und sie gefroren in seinem Bart. Er hatte seinen Freunden nicht helfen können, konnte sie nicht einmal rächen.
Seine gedrungene Gestalt straffte sich.
Dennoch durften diese Bestien nicht ungestraft davonkommen.
Der alte Axtschläger wandte sich ab.
Er musste den Kriegern in der Nordfeste die Kunde von der Bluttat bringen. Wer immer dafür verantwortlich war, Männer würden ausrücken und die Täter bestrafen. So begann der alte Zwerg den langen Weg nach Süden, um die schreckliche Neuigkeit zu überbringen.
Das rotbraune Wams war dick gefüttert, und der grüne Umhang der Pferdelords reichte bis hinab auf den Boden und bestand aus schwerer Wolle. Dennoch zog der Mann ihn enger um seine Schultern und fröstelte. Der Wind war beißend und kalt. Tief unter sich sah er den Pass des Eten, der sich von der Hochmark nach Norden erstreckte, bis er an der Südgrenze Rushaans endete.
Der Pass glich einer Schlucht, die tief in die Berge schnitt, und er war gut zu passieren. Für die Augen Nedeams war wichtig, dass er sich leicht verteidigen ließ. Ein gutes Bollwerk konnte hier selbst ein starkes Heer für lange Zeit aufhalten. Früher war die Festung Eternas im Tal der Hochmark das nördlichste Sperrwerk des Pferdevolkes gewesen. Doch nie war ein Feind von Norden vorgedrungen. Die Elfen und die Paladine Rushaans hatten das verhindert. Nun waren beide vergangen. Während die Elfen zu den Neuen Ufern aufgebrochen waren, hatten die Paladine endlich ihren Frieden gefunden. So lag zwischen der Öde und der Hochmark des Pferdevolkes nur noch die gelbe Kristallstadt Nal´t´hanas. Die Stadt der Zwerge war jedoch zu schwach, um einen massierten Angriff aufzuhalten. So hatten sich die kleinen Herren und das Pferdevolk dazu entschlossen, am Nordende des Passes des Eten eine neue Festung zu errichten. Diese Nordfeste stand bereits und sicherte nun die Grenze. Ihre Mauern schützten den Pass vor einem Überraschungsangriff. Aber der Pass war viele Tausendlängen lang, und auch der schnellste Reiter brauchte Tage, um ihn zu durchqueren. Zeit, die kostbar war, wenn die Nordfeste Verstärkungen benötigte.
Aus diesem Grund musste die Festung in das Signalsystem der freien Völker eingebunden werden. Als der Mann in dem grünen Umhang noch ein Knabe gewesen war, hatte eine lange Kette von Signalfeuern die Städte und Festungen des Pferdevolkes miteinander verbunden. Ihre Feuer waren bei Gefahr entzündet worden und hatten die Pferdelords zu den Waffen gerufen. Diese Signalfeuer hatten bis tief in den Süden, in das ferne Königreich von Alnoa gereicht.
Inzwischen waren die Stapel aus ölgetränktem Brennholz und Brennstein gewichen und durch andere Hilfsmittel ersetzt worden. Große metallene Schüsseln, die das Sonnenlicht reflektierten und die mit Blenden versehen waren, sodass man eine Reihe unterschiedlicher Signale übermitteln konnte. In der Nacht entzündete man starke Brennsteinlampen, deren Licht von den Spiegeln übertragen wurde.
Die Signalstationen wurden stets an den höchsten Punkten errichtet. In den Städten und Festungen nutzte man dafür hohe Türme. Doch im Gebirge des Noren-Brak und entlang des Passes des Eten konnte man solche Türme nicht errichten. Der Fleiß des Zwergenvolkes hatte es nun ermöglicht, eine Lösung zu finden und jene zehn Zwischenstationen zu bauen, welche die Signalverbindung gewährleisteten.
Deswegen war der Mann an diesem Ort und versuchte, trotz des beißenden Windes zu lächeln. Man erwartete es von ihm, denn er war Nedeam, der Erste Schwertmann der Hochmark des Pferdevolkes. Er war es, der das Banner seiner Herrin Larwyn in den Kampf führte, wenn ein Feind die Grenzen bedrohte.
Nedeam war von durchschnittlicher Größe und schlank, und sein langes blondes Haar lugte unter dem Nackenschild des Helmes hervor. Darin ähnelte er vielen Männern des Pferdevolkes. Doch er trug nicht die gerade Klinge der Schwertmänner, sondern die leicht gekrümmte eines Elfenschwertes. Es war die Dankesgabe des Hauses Deshay, dem Nedeam und seine Gefährten im Kampf gegen Orks und Graue Magier beigestanden hatten. Er war nun achtunddreißig Jahre alt, und seine Augen hatten ferne Länder gesehen. Sein Herz hatte dabei Freude und Schmerz erfahren. In den Jahren seines Lebens waren Freunde vergangen und neue an seine Seite getreten. Aber er hatte auch die Liebe seines Lebens gefunden. Llaranya, die Tochter des Elfen Jalan-olud-Deshay. Eine Frau und Kriegerin, die sein Leben teilte und im Kampf an seiner Seite stand.
Auch jetzt stand sie neben ihm, gehüllt in den zartblauen Umhang des elfischen Volkes. Während die Elfen normalerweise weißblondes Haar ihr Eigen nannten, fiel das von Llaranya lang und schwarz über ihren Rücken. Ihr ebenmäßiges Gesicht zeigte ein sanftes Lächeln, während ihre Blicke den Pass entlangschweiften.
„Es ist wunderschön“, sagte sie leise.
„Es ist kalt“, erwiderte Nedeam und zuckte mit einem entschuldigenden Lächeln die Schultern. „Wahrhaftig, meine Geliebte, ich wünschte mir, wir hätten eine angenehmere Jahreszeit für diesen Ritt gewählt.“
„Es ging nicht früher.“ Sie ergriff seine Hand. „Dies ist die letzte Signalstation, und sie wurde jetzt erst fertiggestellt.“
Neben ihnen reckte sich eine kleine Gestalt empor. Sie trug nicht die kniehohen Stiefel des Pferdevolkes, sondern derbes Schuhwerk, welches bis knapp über die Knöchel reichte. Das Wams war knielang und dick gefüttert. Es leuchtete in intensivem Blau und war mit zahlreichen Stickereien aus Metallfäden versehen. Kleine Kristallscheiben waren auf einer Seite der Brust an das Leder genäht. Der breite Gürtel hielt einen schweren Hammer und einen Meißel sowie eine Tasche mit Schreibmaterial. Es war das Festgewand des Ersten Steinschlägers der gelben Kristallstadt Nal´t´hanas. Allruk trug es voller Stolz, und er hatte auch allen Grund dazu. Der Zwerg gehörte zu den fähigsten Baumeistern und Steinmetzen seines Volkes, und er hatte den Bau der Nordfeste sowie der zehn Signalstationen geleitet.
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