Ariane Rücker erblickte in Meißen, im Schatten der geschichtsträchtigen Albrechtsburg, das Licht der Welt. Bereits in früher Kindheit weckte ihr Vater bei ihr die Liebe zum Hören und Erzählen von Geschichten.
Nach einer Uhrmacherlehre studierte sie nacheinander Feinwerktechnik, Belletristik und Sozialpädagogik.
Sie arbeitete als Konstrukteurin, Familientherapeutin, Dozentin und Therapeutin für chronisch psychisch Kranke, ehe sie sich als Technische Redakteurin und Lektorin für wissenschaftliche Arbeiten selbstständig machte.
Die Liebe zum Erzählen und Schreiben bestimmt bis heute ihr Leben.
Ariane Rücker hat drei erwachsene Kinder und lebt in der Sächsischen Schweiz.
Bisher sind von ihr erschienen:
"Wie du mir, so ich …, Aggressionen zwischen Müttern und Töchtern" (Sachbuch);
"Paul hat zu tun" (Kinderbuch) und
gemeinsam mit Tochter Antje
"Fest der Erwartungen" (Weihnachtsgeschichten) sowie zahlreiche Zeitschriftenartikel und Beiträge in verschiedenen Anthologien.
Ariane Rücker ist Mitglied im Neustädter Autoren e. V.
Nebelbraut
Kurzweiliges für die Badewanne und für unterwegs
Nebelbraut
Copyright © 2016. Alle Rechte bei der Autorin
Verlag: epubli GmbH, Berlin
Lektorat:Neustädter Autoren e. V.
Printed in Germany
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über
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Für meine Mutter und meinen Vater,
denen ich die Gabe verdanke,
Phantasie zu entwickeln.
Susis Geister
Begegnung im Regen
Fünf Minuten, in denen nichts passiert
Für jeden brennt ein Licht
Daher also weht der Wind
Nofretetes Entscheidung
Nebelkraut
Wer werfe den ersten Stein
Sommer 1891
Abschied
Der Zug nach Hause
Späte Liebe
Das Märchen von der verlorenen Wurzel
Feenhain
Nomen est omen
Samstag wird gebaut
Der Strohhut
Die heutige Zeitung
Die verflixten Amerikaner
Frau Schmidt
Der Anruf
Wiedersehen
Korsakow
Schein und Sein
Montagszauber
Der Sammler
Melissas Wunsch
Hoher Besuch
Die Kraft der Gedanken
Das Weckerklingeln löste die samtige Schwärze auf und vertrieb die Gespenster, die Nacht für Nacht das Kinderbett umlagerten. Der Vater wälzte sich auf die andere Seite. Susi starrte ins Nichts. Sie lag häufig wach, sodass sie selbst davon überzeugt war, niemals zu schlafen.
Wenn es dunkel wurde und sie in diesen Raum geschickt wurde, kam auch die Angst. Kaum hatte der Vater das Licht ausgeknipst, krochen die nebligen Gestalten aus ihren Verstecken und versammelten sich um das Bett. Und jedes Mal fragten sie, ob Susi lieb gewesen war. Sie dachte an das enttäuschte Gesicht oder die laute Stimme der Mutter. Manchmal befühlte sie auch die Stellen, an denen die Hand der Mutter Abdrücke auf ihrer Haut hinterlassen hatte, sank noch tiefer in ihre Kissen und zog die Bettdecke bis ans Kinn.
Wenn es ganz schlimm kam, lehnten sich die Geister sogar über das Bett, so dicht, dass Susi ihren Atem spüren konnte. Dann kroch sie tief unter die Decke und traute sich erst wieder hervor, wenn das Moped von Herrn Seidel aus dem Nachbareingang vor dem Fenster vorüber knatterte.
Von da an dauerte es nicht mehr lange, bis der Wecker dem Grauen ein Ende machte. Susi liebte den Wecker. Er bestand aus drei Teilen, dem Uhrwerk und zwei grünen Lederschalen, die abends wie ein Haus zusammengesteckt wurden.
Tagsüber durfte Susi damit spielen. Dann klappte sie das Zifferblatt in die Mitte und ließ das Etui wie eine Tasche darum schnappen. Europareisewecker nannte ihn die Mutter, wobei sie das „Europa“ besonders betonte. Niemand anderes, nicht einmal Susis beste Freundin Kerstin, hatte einen solchen Wecker. Und gleich gar keinen, wo Europa drin war. Lag es daran, dass die Mutter Uhrmacherin war? Oder daran, dass sie vor Susis Geburt eine Weile in Westdeutschland gelebt hatte? In Köln. Susi konnte sich nicht vorstellen, wo das lag und was dort anders sein sollte, als hier in Meißen. Aber sie hörte oft, wie die Mutter dem Vater vorwarf, dass er sie überredet hatte, in den Osten zu kommen. Dass sie nun, seit es die Mauer gab, gezwungen war, in diesem Kaff festzusitzen, wo es weder eine ordentliche Arbeitsstelle für sie noch einen Kindergartenplatz für Susi gab.
„Noch fünf Minuten“, hörte sie den Vater murmeln und wusste, jetzt drehte er sich um und vergrub sein Gesicht in Mutters Locken. Irgendwann stand er auf und versuchte, im Dunkeln geräuschlos in die Küche zu gelangen. Meist stieß er dabei an das Bettgestell oder lief gegen den Stuhl vor Susis Bett. Es klapperte, wenn er das Kaffeewasser aufsetzte, dann plätscherte im Bad sein Waschwasser und beim Rasieren sang er „…als Büblein klein an der Mutterbrust …“. Beim Anziehen raschelten seine Sachen.
Im Wohnzimmer deckte er den Tisch für sich. Während er noch Salz und Butter aus der Küche holte, stieg Susi aus dem Bett und setzte sich in der Wohnstube auf ihren Stuhl. Es war noch kalt im Zimmer und sie rieb die nackten Füße aneinander. Wie jeden Morgen tat der Vater so, als hätte Susi ihn überrascht. Sie lachten. Er bestrich zwei Schwarzbrotschnitten dick mit Butter. Nebenbei erzählte er von seiner Arbeit und über Kollegen, deren Namen Susi immer wieder vergaß, von Problemen, die er auf seinem Schreibtisch liegen hatte und von seinem Chef, der kluge Entscheidungen traf.
Was musste der für ein mächtiger Mann sein, wenn er sogar dem Vater sagen durfte, was er zu tun hatte! Susi sah den Chef ihres Vaters vor sich, wie er in einem purpurnen Mantel mit Leopardenkragen vor ihren Vater hintrat und Befehle erteilte. Während sie versuchte, sich ein Bild von der Arbeit ihres Vaters zu machen, streute er Salz auf die Butter und plauderte weiter. Von Sperrholz und Messingblech, das er zum Bau seiner Modelleisenbahn benötigte, von Schrauben und Muttern, die es wieder einmal nicht zu kaufen gab, und von Politik. Susi hing an seinen Lippen. Beim Abendbrot sprach er von genau denselben Dingen, dann verdrehte Susi die Augen und seufzte ein ums andere Mal, weil die Mutter das auch so machte.
Der Vater war inzwischen bei der zweiten Scheibe Brot angelangt, die er tief in den Kaffee tauchte, ehe er abbiss. Susi fand den bitteren Geschmack eklig, aber es gab nichts Wichtigeres für sie, als morgens bei ihrem Vater von der eingetunkten Butterschnitte abzubeißen. Verlangend riss sie den Mund auf und zeigte dabei ihre erste Zahnlücke. Der zweite und der letzte Bissen waren immer für sie. Gemeinsam brachten sie das Geschirr in die Küche. Dann packte der Vater seine Aktentasche, stopfte die Aluminiumblechdose mit den Pausenbroten an eine freie Stelle und zog und zerrte so lange an der ledernen Klappe, bis die Schnallen endlich zuschnappten.
Er umarmte seine Tochter und gab ihr einen Kuss. Susi lief ans Küchenfenster, schob die Scheibengardine beiseite und winkte. Er winkte zurück, bis er aus dem Lichtkreis der Straßenlampe vor dem Haus trat und die Dämmerung ihn verschlang.
Susi krabbelte wieder ins Bett. Es war nicht mehr so dunkel im Zimmer und die Geister hatten sich zurückgezogen. Die Mutter schlief noch. Susi streckte sich aus und fiel in einen traumlosen Schlummer.
Als in der Küche das Geschirr klapperte, schlappte Susi verschlafen ins Bad. Die Waschmaschine musste schon seit einer Weile laufen, denn die erste Ladung Wäsche lag bereits zum Spülen in der Badewanne. Sie hob den Deckel der Waschmaschine an und lugte hinein. Susi liebte es, die schaumigen Wirbel zu verfolgen. Da die Mutter nicht in der Nähe war, erlag sie der Versuchung und hielt probeweise einen Finger ins Wasser – und verbrühte sich. Sie weinte ein bisschen, aber es war keiner da, der sie trösten konnte, denn gleich darauf sah sie die Mutter durch das Badfenster draußen auf dem Wäscheplan.
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