Susi zog sich rasch an. Wenn die Mutter hereinkam, würde sie zum Bäcker gehen. Trällernd hopste sie in die Küche.
„Hinter dem Pullini Pompali ...“, sang sie.
„Es muss heißen: Hinter den Kulissen von Paris“, sagte die Mutter, doch Susi wusste es besser.
Sie hatte die zerkratzte Stimme vom Deutschlandfunk genau im Ohr und die sang:
“… Pullini Pompali …”. Die Stimme gehörte Miräh Matjö, Vaters Lieblingssängerin und der Deutschlandfunk war verboten, doch der Vater hörte ihn heimlich.
In der Küche stand der blau gesprenkelte Emaillewindeltopf auf dem Herd und glucksende Geräusche verrieten, dass Unterwäsche und Handtücher darin brodelten. Ab und an rührte die Mutter mit einem großen Holzlöffel die Wäsche um und Susi rümpfte die Nase.
Der Schlüssel rasselte im Schloss und Susi bekam von der Mutter ein freundliches „Guten Morgen“ und einen Kuss.
„Na, du bist ja schon fertig. Dann kannst du gleich losgehen.“
Susi nahm das Geld und den kleinen Stoffbeutel, den die Mutter aus einem alten Schirmbezug genäht hatte und hopste die frisch gewachsten Stufen hinunter.
Der Weg führte an dem gelben Wohnblock entlang und folgte dann der Hauptstraße. Vorbei am Friseurladen, wo sich die alten Männer die Bärte abnehmen ließen. Der Frisör, der auch ein alter Mann war und beim Schneiden immer mit der Schere in der Luft herum klapperte, schenkte Susi jedes Mal wenn sie ihre Mutter begleitete, ein kleines Kissen mit Haarshampoo. Vorn drauf war das Bild von einem Mädchen mit seifigen Haaren gedruckt. Es hieß Babette, wie darauf zu lesen war und Susis Mutter vergaß nie darauf hinzuweisen, dass Babette kein Geschrei veranstaltete, wenn man ihr die Haare wusch. Susi dachte, dass die Babette auf dem Bild sicher auch keine Seife in die Augen bekam, doch sie sagte nichts. Gleich hinter dem Frisör befand sich der Bäcker. Susi schaute zurück und sah ihre Mutter die Kopfkissen zum Lüften auf das Fensterbrett legen. Auf der anderen Straßenseite, ganz oben im vierten Stock des grauen Hauses winkte ein alter Mann zu Susi herunter. Das war der Winkemann. Er hatte im Krieg einen Splitter in den Kopf bekommen, der nun darin herumwanderte und machte, dass der Mann nichts anderes mehr tun konnte, als am Fenster zu sitzen. Susi winkte zurück und er schien sich zu freuen.
Wie es ihr die Mutter gezeigt hatte, ging Susi genau bis gegenüber vom Bäckerladen und überquerte die Straße.
Vor dem Geschäft fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, zu fragen, was sie kaufen sollte. Seit ihrem dritten Lebensjahr ging sie jeden Morgen mit drei Groschen zur Bäckerei Riedel und kaufte drei große Semmeln. Eine für sich, zwei für die Mutter. Susi öffnete die verschwitzten Finger und sah nach dem Geld. In ihrer Handfläche lagen dreißig Pfennig.
Was sollte sie tun? Sie könnte drei große Semmeln kaufen, aber wenn es ausgerechnet heute das Falsche war? Warum hatte sie nicht noch einmal gefragt? Vielleicht hatte die Mutter gesagt, was sie holen sollte, aber sie hatte nicht zugehört?
„Du hörst nie ordentlich zu“, sagte die Mutter häufig. Susi seufzte und schaute zum Bäckerladen. Frau Riedel winkte hinter der Scheibe. Susi konnte nicht hineingehen.
Sie lief nach Hause. Atemlos kam sie an. Die Mutter öffnete ihr und langte nach dem Beutel. Susi versteckte den Arm hinterm Rücken.
„Ich wusste nicht, was ich holen sollte.“
„Was holst du denn sonst immer?“
Susi schämte sich, doch die Mutter sah es nicht.
„Geh noch einmal los. Jetzt weißt du ja, was du verlangen musst.“
„Aber die Frau Riedel hat mich doch schon gesehen. Was soll sie denn denken?“
„Sie wird dich fragen, warum du beim ersten Mal weggelaufen bist und du wirst es ihr sagen.“
„Ich trau mich nicht.“
„Sei nicht dumm.“ Die Mutter wandte sich dem Wäschetopf zu. Susi blieb im Korridor stehen. In ihren Augen glänzten Tränen.
„Was ist, bekommen wir heute noch Frühstück oder nicht?“ Die Mutter hatte die schwarzen Brauen ärgerlich zusammengezogen und blickte auf ihre Tochter herab. Susi stand immer noch regungslos. Ihre Unterlippe begann zu zittern und sie versuchte es zu unterdrücken. Nichts verabscheute die Mutter mehr als heulende Kinder.
Wortlos nahm die Mutter ihre Strickjacke vom Bügel an der Flurgarderobe, korrigierte vorm Spiegel ihre Frisur und das seidene Haarband und langte nach der Hand ihrer Tochter. Im Sturmschritt schlugen sie den Weg zum Bäcker ein. Susi musste laufen, um Schritt zu halten. Doch die Hand der Mutter war fest wie ein Schraubstock.
„Glaubst du, ich habe den ganzen Tag Zeit? Ich muss arbeiten. Du gehst doch nicht zum ersten Mal zum Bäcker!“ Frau Riedel sah ihnen durch die Scheibe entgegen. Susi schämte sich für ihre Tränen und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Frau Riedel lachte.
„Na, du hast dich wohl beim ersten Mal nicht rein getraut?“ Sie reichte Susi einen Keks über die Theke, obwohl sie wusste, dass die Mutter das nicht mochte. Susi blinzelte dankbar, während die Mutter der Bäckerin von dem Malheur berichtete.
„Ach, da musstest du doch nicht zurückgehen. Das hätten wir schon hinbekommen.“ Frau Riedel zwinkerte ihr zu. Susi staunte. Wie konnte Frau Riedel wissen, was ihre Mutter wollte? Susi war sich nie sicher und wenn, war es meistens verkehrt.
Beim Frühstück schaute die Mutter besorgt nach dem Wetter. Es hatten sich ein paar Wolken gebildet und je nachdem, ob es sonnig blieb oder nicht, entschied sich, ob sie die Wäsche noch zu Ende bringen oder ihrer Heimarbeit nachgehen würde.
Susi wurde nach draußen geschickt. Die Mutter hatte auch bei schlechtem Wetter keine Zeit und Susis Freunde durften nicht zu ihr nach Hause kommen, denn die Mutter hatte die Uhren fremder Leute zur Reparatur da und die Gefahr von Verlusten war viel zu groß.
Susi beobachtete die Wolken ebenso interessiert, wie ihre Mutter. Hoffentlich regnete es! Dann würde sie zu Kerstin gehen und stundenlang mit ihr Puppen an und ausziehen. Susi hatte keinen Spaß an dieser Puppenspielerei, aber Kerstin bewohnte mit ihrer älteren Schwester Jana ein Zimmer und darin stand Janas Klavier. Jana hatte ihr noch nie etwas vorgespielt; sie hasste das Klavierspielen, aber Susi streichelte den polierten Kasten jedes Mal mit sehnsüchtigen Blicken und wenn die Klappe offen stand, legte sie sogar vorsichtig eine Hand auf die Tasten.
Als Susi mit der Mutter das Geschirr in die Küche brachte, malte die Sonne ein helles Viereck auf den braunen Linoleumfußboden. Janas Klavier blieb heute allein.
Susi zog ihre Steppjacke über und ging hinaus, während die Mutter das Geschirr abwusch. Von oben im Haus ertönte Kerstins Wehgeschrei. Sie weigerte sich, einen der kratzigen Pullover anzuziehen, die ihre Mutter unentwegt strickte. Susi kannte solche Zeremonien, doch sie wurde dafür nicht in den Hausflur gesperrt.
Vor dem Haus gab es einen Spielplatz mit einem Sandkasten und einem Klettergerüst, das aussah wie ein Pilz. Susi stieg unter den Pilzhut und wartete. Um diese Zeit waren kaum Kinder draußen, denn die größeren waren in der Schule. Darüber war sie froh. Wenn die Großen da waren, lebte sie in ständiger Angst. Einmal hatte die Gudrun Seidel aus dem Nachbareingang ihr eine der beiden marmorierten Holzmurmeln aus der Tasche gestohlen, die Susis Vater von einer Dienstreise mitgebracht hatte. Zur Rede gestellt, verkroch sich Gudrun hinter ihrer großen Schwester. Die spuckte Susi an und drohte ihr obendrein Prügel an. Susi hatte überlegt, ob sie es dem Papa der beiden sagen sollte, aber sie wollte keine Petze sein.
Auch der fetten Petra ging sie aus dem Weg, obwohl die nur zwei Jahre älter war. Petra hatte Susi einmal über den Haufen gerannt, weil sie sich darüber gestritten hatten, ob man Kartoffeln und Quark mit oder ohne Butter aß. Susi mochte sie nur mit Butter, ohne Quark.
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