Zum Glück war auch der Jens von gegenüber nicht draußen. Susi und Kerstin spielten oft mit ihm, obwohl er sogar älter war, als Kerstin, aber bei ihm wusste man nie ... Susi hatte erst vorige Woche von ihrem Vater Schimpfe bekommen, weil sie alle gemeinsam auf Jens´ Vorschlag hin „Po-Gucken“ gespielt hatten. Wobei das Schlimme nicht die Schimpfe war, sondern Susis Schamgefühl vor ihrem Vater.
Endlich kam Kerstin aus dem Haus, in Rock und Pullover, die Ringelsocken verrutscht, der Scheitel auf dem Kopf kaum zu erkennen. Susi sah, dass es schlimm gewesen war.
Inzwischen waren auch Kerstins Mutter, die kleine Frau vom mittleren Stockwerk und Susis Mutter aus dem Haus gekommen. Sie ließen sich auf der gelben Bank neben der Haustür nieder, um neue kratzige Pullover zu stricken. Kerstins Mutter arbeitete ebenfalls zuhause. Sie hatte sogar das Abitur gemacht, aber dann hatte sie zur falschen Zeit ihr Kind bekommen und nun nutzte ihr die Schläue gar nichts, denn sie verdiente ihren Lebensunterhalt mit Näharbeiten für fremde Leute. Susis Mutter war zuhause, weil sie bei einem privaten Handwerker beschäftigt war und deshalb keinen Kindergartenplatz bekam. Sie hatte einen Werktisch im Wohnzimmer stehen und arbeitete bei Regenwetter tagsüber, bei schönem Wetter abends und nachts.
Kerstin schlug vor, hinters Haus in die Strauchbude zu gehen. Susi ging mit, denn so konnten die Erwachsenen sie nicht sehen. Sie spielten Mutter, Vater, Kind. Susi war immer der Vater und ging auf Arbeit, während Kerstin ihre Puppe fütterte, schlafen legte und an- und auszog, bis die Mädchen zum Essen nach Hause gerufen wurden. Susis Mutter hatte saure dicke Milch mit Zucker gekocht und Susi löffelte ihren Teller aus, während sie erzählte, was sie am Vormittag mit Kerstin gespielt hatte. Nach dem Essen wurde Susi ins Bett geschickt.
Wieder lag sie mit offenen Augen und lauschte. Tagsüber war es nicht so schlimm wie nachts, aber die Geister waren dennoch da und sie wussten von Susis Schuld. Auch die Mutter und der Vater wussten es und die Mutter sorgte dafür, dass Susi es nicht vergaß. Susi hatte etwas sehr Schlimmes getan, etwas, das sie nie mehr würde gutmachen können: Als sie drei Jahre alt gewesen war, hatte sich mit ihrer Mutter gestritten. Schließlich hatte sie ihrem Vater vorgeschlagen, die Mutter zu verkaufen. Der war entsetzt gewesen. Er hatte Susi erklärt, dass sie dann keine Mutti und er keine Frau mehr haben würde und dass Susi so etwas nie, nie, nie auch nur denken dürfe. Er hatte Susi gebeten, die Mutter zurückzuholen, die schon angezogen in der Tür gestanden hatte. Die Mutter war zurückgekommen, doch seitdem lauerten Susi im Dunkeln die Geister auf. Sie schämte sich dafür, dass sie ihrem Vater die Frau wegschicken wollte. Noch mehr aber schämte sie sich, weil sie gelogen hatte, als sie die Mutter gebeten hatte, zu bleiben. In Wirklichkeit wünschte sie sich weit fort, wo die Mutter ihr keine Angst machen konnte.
Susi verkroch sich unter die Decke und ließ nur an der Seite ein Guckloch frei. Es dauerte nicht mehr lange, bis sie mit der Mutter den Vater abholen ging.
Der Weg zum Bahnhof führte vorbei am Rumpelmännchen und an der HO-Kaufhalle, wo Susi immer zwei Flaschen Milch kaufte und die Verkäuferin „Lulia“ hieß. Dann liefen sie ein Stück an der Triebisch entlang und zuletzt vorbei an der Jutespinnerei und den Häusern auf der linken Straßenseite, wo mal ein Kind aus dem Fenster im vierten Stock gefallen war. Susis Vater begrüßte seine Mädchen, wie er sie nannte, und Susi klammerte sich an seinen Hals, schlang die Beine um seinen Bauch, und hätte am liebsten nie mehr losgelassen. Als er sie absetzte, überließ er ihr seine Fahrkarte. Susi ließ ihre Hand in seiner warmen Pranke verschwinden und erzählte, was sie den Tag über gespielt hatte und was es zu essen gab, immer eifersüchtig darauf bedacht, dass die Mutter nicht zu Wort kam. Mit den Fingern der anderen Hand fuhr sie wieder und wieder über das ovale Knipsloch, das die Schaffnerzange in der Fahrkarte hinterlassen hatte. Wenn sie groß war, wollte sie auch Schaffnerin werden. Sie würde die Leute streng anschauen und mit der schweren Zange die Fahrkarten knipsen. Und die Leute, die nicht bezahlt hatten, müssten laufen.
Zuhause zogen sich die Eltern in die Küche zurück. Der Vater setzte Kaffeewasser auf und die Mutter schloss energisch die Küchentür vor Susis Nase. Nicht, ohne ihrer Tochter einen strengen Blick zuzuwerfen. Dabei bildeten ihre schwarzen Augenbrauen fast eine Linie und Susi war der Meinung, so, mit der hellen Haut, den schwarzen Augen und Haaren und dem grimmigen Mund, musste der Teufel aussehen. Sie hatte schon einmal nachgeschaut, ob die Mutter einen Pferdefuß hatte, doch den hatte sie versteckt.
Susi öffnete ihre feuchte Hand und besah sich die aufgeweichte Fahrkarte.
„So ist sie nicht mehr schön“, würde die Mutter sagen und sie wegwerfen. Susi sah sich nach einem Versteck für die Fahrkarte um. In der Küche pfiff der Wasserkessel und draußen ratterte Herr Seidel wieder mit seinem Moped vorbei. Während ihre Eltern am Küchentisch stehend Kaffee tranken, berichtete die Mutter, wie der Tag aus ihrer Sicht gelaufen war. Susi stand im Flur und schämte sich. Früher hatte sie oft versucht, in die Küche zu gelangen und die Sache zu erklären. Die Eltern hatten sie jedoch jedes Mal wieder vor die Tür geschickt. Susi hörte auf jedes Wort und war hin- und her gerissen zwischen Wut und Verzweiflung, aber es gab kein Entrinnen. Kein noch so gutes Versteck konnte verhindern, dass der Vater erfuhr, was bei Susi alles schief lief und sie war sich sicher, dass er sie gar nicht mehr lieb haben konnte. An keinem Tag schaffte sie es, „or-dent-lich“ zuzuhören, ihre Sachen „or-dent-lich“ aufzuräumen, die Fransen am Teppich „or-dent-lich“ glatt zu kämmen - das war ihre tägliche Aufgabe - und der Mutter - sie betonte das Wort extra - zu gehorchen. Und nun konnte sie nicht einmal mehr beim Bäcker einkaufen gehen! Sie schielte in den Spiegel neben der Flurgarderobe und streckte sich die Zunge heraus. Als sich die Küchentür öffnete, durfte Susi mit Kerstin wieder in die Strauchbude gehen. Ihr Vater widmete sich seinem Hobby, dem Bau eines Lokomotivmodells, und die Mutter setzte sich an den Werktisch und würde auch zum Abendessen nur wenig Zeit haben.
Beim Abendbrot kreisten die Gespräche hauptsächlich um das nicht vorhandene Geld und um den Ärger, den es immer wieder mit Susis Tanten und Onkel sowie mit den Großeltern gab. Seit Susis Mutter nach Meißen gezogen war, galt sie bei ihrer Magdeburger Verwandtschaft als „Landpomeranze“, was sie sehr verletzte und zu vielen Streitereien führte. Für die Meißner Großeltern hingegen war die Schwiegertochter die verwöhnte Städterin, seit sie es verweigert hatte, gemeinsam mit der restlichen Familie die Klärgrube zu leeren und die Jauche auf das Feld auszubringen. Susi versuchte, sich am Gespräch zu beteiligen, indem sie mal dem Vater und mal der Mutter Recht gab. Und was die Großeltern betraf: In Wahrheit hielt sie sich bei beiden gern auf. Die Meißner Großfamilie mit Onkel, Groß- und Urgroßeltern bot mit dem Weinberg und der Landwirtschaft eine Menge Abenteuer, die Susi daheim nicht kannte. Die Magdeburger Großeltern hingegen waren reich und ihre hohe Etagenwohnung ließ Susi zur Prinzessin aufsteigen, solange ihre jüngere Cousine nicht auftauchte und ihr den Platz streitig machte. Besuche bei den Großeltern, den einen wie den anderen, endeten regelmäßig in einer Katastrophe. Bei Vaters Eltern folgte danach meist wochenlanges Schweigen und in Magdeburg stritten sich am Ende alle laut über Politik, und wenn das Geschrei zu groß wurde, warf Susis Opa sie alle hinaus.
Die heutigen Abendbrotgespräche verliefen im Nichts, denn die Mutter hatte gemerkt, dass der Vater nicht zuhörte. Wie meistens beim Essen verfolgte er nebenbei im Radio die Nachrichten und wenn diese vorüber waren, kreisten seine Gedanken um seine Modelleisenbahn. Entsprechend kümmerlich waren seine Antworten und die Mutter sah verzweifelt aus.
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