„Quatsch“, knurrte er und machte einen Schritt auf sie zu.
„Keinen Schritt weiter“, zischte Kalina mit gesträubtem Fell.
„Du jagst mir keine Angst ein! Was glaubst du, was ich mit dir mache, wenn ich dich in die Hände bekomme, du blödes Vieh?“, keifte er und sprang auf sie zu.
Er erreichte sie nie!
Ein grauer Schatten flog auf ihn zu, riss ihn zu Boden, stürzte sich auf ihn und schlug ihm wutentbrannt und voller Hass die Krallen ins Gesicht.
„Nein, Henry!“, schrie Kalina. „Tu es nicht. Er ist es nicht wert!“
„Ich bring ihn um!“, kreischte der Fetzer. „Für alles, was sie uns angetan haben, bring ich ihn um!“
„Nein, Henry! Bitte nicht, denn dann wärst du nicht besser als er.“ Er hob den Kopf und starrte sie aus blutunterlaufenen Augen an. „Tu es nicht, Henry“, bat sie noch einmal. Stöhnend schüttelte er sich und die Wildheit wich aus seinem Gesicht. Aber den Mann unter sich ließ er nicht los.
Nur wenige Sekunden lang hatte Kalina die todbringende Skala aus den Augen gelassen. Doch dieser kurze Moment wäre ihr und ihren Freunden fast zum Verhängnis geworden! Sie sah hinüber zu dem Pegel und erschrak.
ACHT...
„JETZT!“ kreischte sie schrill. „Raus hier!“
Henry reagierte sofort. Doch bevor er ihr hinterherhetzte, fetzte er dem Professor die ausgefahrenen Krallen noch ein letztes Mal durchs Gesicht. Sierbachs Wimmern begleitete ihren Sprung durchs Fenster hinaus in die Nacht. Jonny turnte bereits dem Boden entgegen. Henry und Kalina folgten ihm.
Sie schafften es!
Mit heraushängender Zunge ließen sie sich neben Bobo und den anderen Katzen zu Boden fallen. „Gleich könnt ihr was erleben“, keuchte Kalina und starrte gebannt zu dem Backsteingebäude hinüber.
„Was?!“, fragte Bobo.
Und im selben Augenblick flog unter gewaltigem Getöse Sierbachs Laboratorium in die Luft. Eine gigantische Feuersbrunst jagte dem Himmel entgegen und ließ Metallteile und Steine regnen. Etwas Glühendes schrammte schmerzhaft über Kalinas Hüfte.
„Aua!“, kreischte Einstein, der Professor, als ihn ein Stück Rohr traf. Sie warteten nicht, bis noch mehr von ihnen getroffen wurden, sondern machten schleunigst, dass sie außer Reichweite kamen.
„Das nenne ich Gerechtigkeit“, zischte Henry neben Kalina. „Jetzt können die beiden Mistkerle gemeinsam den Teufel in der Hölle besuchen.“
„Ihr habt die beiden doch nicht etwa getötet?“, fragte Bobo streng. „Wir sind keine Killer! Ihr solltet ihnen eine Lehre erteilen, sie aber nicht umbringen.“
„Sie sind selbst Schuld“, winkte Henry ab. „Hätten sie auf Kalinas Warnung gehört und die Flatter gemacht, wären sie noch am Leben. Aber er musste sie ja unbedingt angreifen.“
„Ich finde es besser so, Boss“, erklärte Jonny. „Wer weiß, was für Grausamkeiten sie sonst noch begangen hätten.“
„Also gut. Ihr habt sie gewarnt. Wenn sie nicht darauf hörten, ist es ihre Schuld. Ich hoffe nur, dass deine Roberta keine Schwierigkeiten bekommt.“
Kalina erschrak. „Wie meinst du das?“, flüsterte sie.
„Na, du bist gut. Schließlich hat deine Menschenfreundin ja für diesen Sierbach gearbeitet.“
Richtig! Natürlich würde die Polizei den Unfall untersuchen. Verdammt! Daran hatte sie in all der Aufregung überhaupt noch nicht gedacht. Sie musste sofort nach Hause. Roberta hatte ja keinen blassen Schimmer, was sich da vielleicht über ihrem Kopf zusammenbraute.
„Ich muss sie warnen, Boss“, stieß Kalina hervor.
„Natürlich“, nickte Bobo. „Wir treffen uns morgen Abend in unserm Stammquartier.“
„Au fein“, piepste die kleine Kati. „Besprechen wir dann, was wir als Nächstes tun werden? Ich hab da nämlich ´ne tolle Idee.“
„Erzähl mal“, forderte Fanny, die Verruchte.
„Mir kannst du es morgen erzählen, Kati“, rief Kalina und eilte davon.
„Mann, bin ich aus der Puste“, keuchte Kalina. „Ich muss dir unbedingt was erzählen, bevor hier vielleicht die Polizei aufkreuzt.“
„Polizei?!“, rief Roberta erschrocken.
„Reg dich nicht auf. Ich muss nur schnell was trinken, danach erzähle ich dir, was passiert ist“, versuchte Kalina ihre Beichte nun doch noch etwas hinauszuschieben, denn sie ahnte, dass Roberta mit dem, was sie getan hatte, nicht einverstanden sein würde.
„Also gut, ich warte“, erwiderte Roberta. Sie folgte Kalina in die Küche und blieb im Eingang stehen.
Sie wird sich nicht eher von der Stelle rühren, bis ich ihr alles gesagt habe, wusste Kalina, also erzählte sie es ihr, dann hatte sie es wenigstens hinter sich.
„Ihren Tod wollte ich nicht“, sagte Roberta, als Kalina schwieg. „Sie sollten zur Rechenschaft gezogen werden, aber nicht von dir oder von mir, denn Selbstjustiz ist sicherlich der falsche Weg.“
„Aber ich habe ihn gewarnt“, verteidigte sich Kalina. „Sie wären entkommen, hätte sich Sierbach nicht auf mich gestürzt. Aber sein Hass auf mich war anscheinend stärker, als sein Selbsterhaltungstrieb.“
„Er hat dir nicht geglaubt, Kalina.“
„Sein und Thomsens Pech. Jedenfalls hab ich ihn gewarnt und das war mehr, als er verdiente, denn er und Elmar Thomsen waren ganz besonders böse und grausame Menschen.“ Und damit Roberta sie verstand, erzählte sie ihr von Porky und Saros, ihren beiden geliebten Kindern.
Mein Gott, dachte Roberta entsetzt. Wo soll das noch enden, wenn die Menschen immer mehr den Respekt und die Achtung vor dem Leben verlieren, sich alles zu Nutze machen, keine Grenzen mehr kennen und alles ausprobieren und erforschen, was nur irgendwie machbar ist?
„Ich denke wie du“, wisperte Kalina. „Doch für viele Menschen sind wir nun mal leider nur minderwertige, gefühllose Lebewesen, mit denen sie machen, was sie wollen.“
„Was? Woher weißt du, was ich gerade gedacht habe?“, fragte Roberta verwirrt.
Kalina tat so als hätte sie nichts gehört und begann sich hingebungsvoll zu putzen.
„Bitte, Kalina. Ich muss es wissen“, bat Roberta.
„Warum?“, zischelte Kalina.
„Was, warum?“
„Warum du es unbedingt wissen musst.“
„I...ich kann das nicht so einfach erklären“, stotterte Roberta völlig aus dem Konzept gebracht.
„Miserables Argument“, brummelte Kalina. „Vielleicht ist es ja gar nicht gut für dich zu viel zu wissen. Wenn du nicht viel weißt, kannst du auch nicht viel erzähl´n.“
„Na hör mal!“, rief Roberta empört. „Ich würde dich niemals verraten, das solltest du doch wissen. Ich habe dir meine Vertrauenswürdigkeit ja wohl bewiesen, oder etwa nicht?“
Kalina unterbrach ihre Körperpflege und hob den Kopf . Sie weint, dachte sie und schämte sich. Sie rückte näher und legte eine dicke Pfote auf Robertas Arm.
Natürlich konnte diese ihrem Katzencharme nicht widerstehen und begann sie zu streicheln. Gehöre ich jetzt zu den domestizierten Katzen, überlegte Kalina. Na, wenn schon, auf jeden Fall ist das Streicheln sehr angenehm.
„Was ist denn das?“, fragte Roberta und fuhr vorsichtig mit dem Finger über die sich quer über Kalinas Kopf windende Wulst.
„Ein Andenken an den Professor, vielleicht erhielt ich bei dieser Gelegenheit meine besonderen Fähigkeiten“, schnurrte Kalina und schloss die Augen.
KOMMISSAR HARTMANN ERMITTELT
Das Heulen des Sturms weckte Roberta. Sie rieb sich die Augen und sah zum Fußende, wo Kalina zusammengerollt leise schnarchte. Roberta lächelte zärtlich. Ich werde sie beschützen und ihr helfen, die schrecklichen Erinnerungen zu überwinden, schwor sie sich. Dann schwang sie ihre schlanken Beine über den Bettrand, stand auf und verschwand im Badezimmer.
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