Denn was kaum jemand wusste, war, dass dem Concierge-Querstrich-Hausmeister Jonathan Bingly die Welt der Reichen und Schönen nicht so fremd war, wie man wohl zunächst vermutet hätte. Zwei Jahre vor dem Schulabschluss war er mit Beverly zusammengekommen, dem zugegeben hübschesten Mädchen der Schule. Blonde, lange Haare, braune Rehaugen, eine Figur zum Niederknien… kurzum, so ziemlich jeder seiner Mitschüler hatte ein Auge auf sie geworfen gehabt. Fast alle Jungs standen auf sie, und alle Mädchen beneideten sie. Und Jonathan bekam sie. Unfassbar. Gut – er sah selbst nicht schlecht aus. Er war groß, kräftig, hatte braunes Haar und braune Augen, doch da hörten die Parallelen zu dem Prototyp des männlichen College-Schönlings auch schon auf. Er war, trotz seiner muskulösen Sportlichkeit, nicht im Footballteam. Er fand es schlicht und einfach doof, sich von Mädchen in kurzen Röcken anfeuern zu lassen – lieber ging er joggen und gelegentlich Kickboxen. Und er war kein Partylöwe. Abends blieb er zuhause und lernte für die Schule. Seine Eltern hatten ihm das eingebläut. Lern, Junge, dann wird etwas aus dir, hatten sie ihm wieder und wieder gepredigt. Wie oft hatte ihn das genervt, aber er hatte schließlich eingesehen, dass sie recht hatten. Denn er war intelligent. Ihm flog nicht alles zu, weiß Gott nicht, aber wenn er sich Mühe gab, begriff er den Stoff und sahnte gute Noten ab. Er würde es zu etwas bringen, davon waren seine Eltern überzeugt, und auch er selbst glaubte mehr und mehr daran. Studieren – das war sein Ziel. Er kam aus einfachen Verhältnissen, der Vater Arbeiter, die Mutter Hausfrau, und er wollte mehr. Und daher besoff er sich nicht, sondern lernte, und ging nicht feiern bis in die Puppen, sondern las. Und so konnte niemand überraschter sein als er selbst, als Beverly Morgan ihn, ausgerechnet ihn , erwählte.
Er wusste es noch so genau, als sei es gestern gewesen. Er hatte gerade die Bücher in seinem Spind verstaut und diesen mit Schwung verschlossen, in Gedanken schon bei der nächsten Unterrichtsstunde, als ihn große, braune Augen, umrahmt von einer Wolke blonden Haars, spöttisch von der Seite angesehen hatten. Verdammt. Sie hatte hinter der offenen Spindtüre gestanden, und er war so erschrocken, dass sein Herz einen Sprung getan hatte. „Be-, Beverly!“, hatte er nur stammeln können, und sie hatte gegrinst. „Hundert Punkte!“, hatte sie schlagfertig erwidert. „Jonathan, richtig?“ Jon hatte nur nicken können, seine Zunge am Gaumen klebend, und sein Hirn auf Standby. Er war zwar ein ernsthafter, vernünftiger Junge, aber er war eben auch genau das, jung . Jung, leicht zu beeindrucken, und hormonell heißblütig – wie man eben so war in diesem Alter. Ihm war das Blut gerecht verteilt ins Gesicht und in die Lenden geschossen... Scheiße . Aus der Nähe sah sie noch so viel besser aus… Beverly indes hatte weitergesprochen, hatte geredet und geredet, er hatte genickt und genickt, und am Ende waren sie verabredet gewesen und hatten Telefonnummern ausgetauscht.
Wobei die Verabredung eigentlich eine Nachhilfestunde in Mathematik sein sollte. „Du bist so schlau!“, hatte Beverly ihm geschmeichelt, und er hatte das einzige getan, was ihm möglich gewesen war – er hatte wieder genickt. Und dann hatte sie die Katze aus dem Sack gelassen. Sie brauchte seine Hilfe. Ihre Versetzung war gefährdet. Und natürlich hatte sich Jonathan dann bereit erklärt, ihr zu helfen. Wer hätte da nein gesagt? Und es war gekommen, wie es kommen musste. Zwischen Pythagoras und Dreisatz hatte sich Beverly an ihn geschmiegt und wie von selbst hatten ihre Lippen sich gefunden, und von nun an, wie nannte man es so schön, gingen sie miteinander.
Jonathan wurde mit einem Schlag wach. Er setzte sich auf, schwitzend, orientierungslos, mit einer schmerzhaft pochenden Härte… nun ja. So ging es ihm meistens, wenn er von Beverly träumte. Gott sei Dank geschah das immer seltener – noch vor einem Jahr hatten ihn diese Träume so regelmäßig heimgesucht, dass er am Rande des Wahnsinns gewesen war. Heute fing er sich relativ schnell. Sein Herzschlag normalisierte sich, ebenso wie die Situation unterhalb seiner Gürtellinie. Denn mit Beverly war es lange aus und vorbei… Beverly war Geschichte. Sie war seine große Liebe gewesen, damals, und war zu seinem größten Alptraum geworden. Aber auch das war vorbei, nun ja, fast zumindest. Jon schaute auf seinen Digitalwecker. 1:39. Er seufzte, legte sich wieder hin und schlief ein, nun traumlos.
„Hornochse!“, schimpfte Bella, nicht ahnend, dass sie von dem so Beschimpften nur kurz zuvor als weiblicher Vertreter derselben Familie betitelt worden war. Sie war wütend. So respektlos war sie lange nicht behandelt worden. Stampfte wie… ein… Ochse - ja, die Bezeichnung passte perfekt! – durch ihr Arbeitszimmer und ließ einen blöden Spruch nach dem anderen ab. Augenbrauen zupfen! Pubertär und frech… aber irgendwie erfrischend, wie sie sich eingestand. Dieser Typ war nicht auf den Mund gefallen – das mochte sie. Sie selber konnte auch austeilen, aber musste nur selten einstecken. So war das heute für sie eine eher ungewohnte Erfahrung gewesen… Sie grinste und machte sich einen ihrer geliebten Tees, als ihr Handy klingelte und eine Nachricht ankündigte.
CARO: Na, wie war das Strandshooting? Ich bin ganz neidisch…;-)
ANNABELL: Kalt, windig, nervig, und erwähnte ich schon „kalt“? Behalt deinen Neid für dich. Und dann auch noch der Hausmeister… nerv… ich war kaum durch die Tür, da wollte er den Stromzähler ablesen.
SANDRA: Hausmeister?
ANNABELL: Ja, total frech und penetrant…
CARO: …und gutaussehend????
Annabell las Caros Nachricht und schnaubte. Das war ja mal wieder typisch. Kaum hatte Caro, die schüchternste unter den drei Freundinnen, endlich einen Freund, ließ sie solche Kommentare los. Caroline hatte, bevor sie ihren „Mr Zoom“, wie sie ihn nannte, getroffen hatte, gar keine Erfahrungen mit Männern gehabt. Dann war sie, nach echt langem Hin und Her, endlich mit ihrem Rick zusammengekommen (Sandra und Bella hatten gehörig nachhelfen müssen…) und geizte seitdem nicht mit zweideutigen Bemerkungen. Himmel … Doch wahrscheinlich habe ich es verdient, gestand sich Bella ein. Sie selbst war frech, selbstbewusst und nie um einen Kommentar verlegen, und dabei fast so schlagfertig wie ihre Freundin Sandra. Zumindest nach außen hin. Doch Annabell hatte auch eine Seite, die niemand kannte, nicht mal ihre beiden Freundinnen. Denn so sexy und kokett sie sich gab, so schüchtern und zurückhaltend war sie eigentlich, zumindest in Bezug auf… Männer. Verkorkst, dachte sie. Sie seufzte tief und schrieb zurück.
ANNABELL: Ja, gutaussehend – wenn man denn auf Blaumann steht. Gute Nacht Mädels, ich bin echt geschafft…
SANDRA: Gute Nacht… und träum schön vom kalten Strand oder heißen Hausmeister, such dir was aus…
CARO: Nimm den heißen Hausmeister… schlaf schön!
Heißer Hausmeister… Annabell grinste in sich hinein. Zugegeben, ganz attraktiv war er ja, mit seinen braunen, kurzen Haaren und seinen braunen Augen… und die muskulöse Figur unter diesem furchtbaren Blaumann war zumindest zu erahnen gewesen. Schlaksig und schwächlich war er ganz sicher nicht. Doch ganz egal, wie attraktiv dieser Jonathan auch war, Annabell hatte kein Interesse. Kein Interesse am Hausmeister – kein Interesse an irgendeinem Mann.
Das hatte vor fünf Jahren aufgehört. Jegliches Interesse am anderen Geschlecht, das sie vorher empfunden hatte, war verpufft, zu Asche zerfallen, einfach weg. Daran war er schuld gewesen. Er . Sie wusste nicht einmal seinen Namen, denn er hatte ihr einen falschen genannt. „Ich bin Carl Brook, Modelagent“, hatte er sich ihr vorgestellt und ihr förmlich die Hand geschüttelt. Carl Brook. Von wegen. Sie hatte später herausgefunden, dass es keinen Modelagenten namens Carl Brook gab, doch da war schon alles zu spät gewesen. Sie war siebzehn gewesen, blutjung, unerfahren und ganz am Anfang ihrer Modelkarriere. Nachdem sie ihr erster Auftraggeber fast schon klassischerweise von der Straße weg engagiert hatte – sie war mit Sandra und Caro Eis essend durch Lanbridge spaziert – waren weitere Jobs zunächst nur zögerlich gefolgt. Noch lief es nicht so richtig, aber alle, die schon länger in der Branche arbeiteten, sagten ihr eine goldene Zukunft voraus. Du bist was Besonderes, hörte sie oft, du hast das gewisse Etwas, das Gesicht von morgen… doch das nützte ihr heute noch nicht wirklich viel. Klinken putzen, empfahl ihr ihr erster Auftraggeber, nimm jeden Job, den du kriegen kannst, riet ihr ein bekannter Fotograf. Und das tat sie, doch irgendwie lief es noch nicht so richtig – sie war frustriert. Und als sie Carl Brook traf, wollte sie nichts mehr, als durchzustarten, ein bekanntes Model zu werden, und Geld zu verdienen. In einem Jahr würde sie die Schule abschließen, und im Gegensatz zu ihren Freundinnen hatte sie noch keine Ahnung, was sie danach machen würde. Sandra und Caroline wollten beide studieren. Caroline Medizin, das wollte sie schon immer, und Sandra war noch unsicher. Beide wollten sie überreden, sich ihnen anzuschließen. Überleg doch mal, Bella, wie lustig es wäre… wir drei zusammen an der Uni, pflegten sie auf sie einzureden. Doch Annabell hatte keine Lust dazu. Sie hatte lange genug die Schulbank gedrückt. Sie war keine schlechte Schülerin, aber eben auch keine begeisterte. Sie war clever und zuverlässig, und so schaffte sie ohne viel Mühe mittelmäßige bis gelegentlich gute Noten. Nicht wie Caro, die immer schon Klassenbeste gewesen war, aber sie hielt sich ohne Anstrengung im guten Mittelfeld. Damit weiterzumachen, Klausuren, Seminare, Hausaufgaben, Referate, und das ganze freiwillig – undenkbar für Annabell. Daher war sie überglücklich gewesen, als sich ihr die ersten Modelaufträge boten. Und als sie Brook traf, hatte sie bereits einige Wochen nicht mehr gearbeitet, und war verzweifelt. Es war einfach der perfekte Zeitpunkt gewesen. „Komm doch mit“, hatte er ihr angeboten, nachdem er ihr seine -gefälschte- Visitenkarte gegeben hatte. „Ich mache ein paar Aufnahmen mit dir, und vielleicht kann ich dich an einen meiner Kunden vermitteln!“ Das war Musik in Annabells Ohren gewesen, und sie hatte ihn zu sich ins Hotel begleitet. Das war der größte Fehler ihres Lebens gewesen.
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