Genie als Visagistin. Und darüber hinaus eine großartige Beobachterin. „Ja, Sel, die Tigerpuschen sind und bleiben ein Muss!“ Annabell lachte selbst über ihre Pantoffeln. Aber nur so konnte sie Jobs wie diesen aushalten. Das Werbeshooting, für das man sie diese Woche gebucht hatte, war ein klassisches Strandshooting – Sand, Felsen, Wellen und eine fast nackte, attraktive junge Frau. Welche in diesem Fall natürlich sie selbst war, Annabell Jenkins. Alles passte zusammen, außer… das Wetter. Was kalendarisch gesehen völlig in Ordnung ging, denn es war Februar. Der Strand war wunderschön, die Sonne schien, aber es war eben… saukalt. Eine Tatsache, die den Verantwortlichen für die Werbekampagne natürlich völlig egal war.
Natürlich , dachte Annabell säuerlich. Ihr seid es ja auch nicht, die hier halbnackt bei 10 Grad rumhüpfen müssen, nicht wahr? Daher hüllte sich Annabell so sorgfältig ein, wie sie konnte. Die Tigerpuschen gingen ohnehin mit auf jedes Shooting, und sie hatten sie bisher noch nie im Stich gelassen. So stapfte Bella auch jetzt mit ihren heißgeliebten Pantoffeln über den kalten Sand. Kalter Sand, hatte sie schnell herausgefunden, war schlimmer als alles andere, denn er
kroch zwischen die Zehen, erreichte jede Nervenendigung… Verdammt, warum konnte es denn nicht wenigstens, nun,
April sein, oder besser noch, Mai? Und überhaupt, was wollten sie
überhaupt am Strand? Bella schüttelte entnervt den Kopf. Als ihre Agentur sie über das Shooting informiert hatte, hatte sie angenommen, es ginge um etwas Gängiges wie ein neues Deodorant, Haarpflege oder so etwas. Das hätte wenigstens irgendetwas mit dem Thema Strand zu tun und könnte erklären, warum sie hier im knappsten Bikini der Weltgeschichte über die Felsen hüpfte, die malerisch in der – eiskalten – Brandung lagen. Aber nein… es gehe um eine neue Autopolitur, hatte man sie aufgeklärt.
Autopolitur ? Was zum Teufel…? Mal absehen davon, dass Annabell in ihrem ganzen Leben noch nie ein Auto poliert hatte – und sie beabsichtigte auch nicht, das zu ändern – was hatte ein Auto hier am Strand verloren? Zudem sie weit und breit keines entdecken konnte. Sie verstand, wieder einmal, die Welt nicht mehr, und zum x-ten Mal beschloss sie, wenn ich mal nicht mehr modele, mache ich etwas aus mir… nur,
nie die Werbebranche! Sie verfügte über jede Menge kreative Phantasie, aber welches Hirn eine Autopoliturwerbung am Strand erdacht hatte, ging über ihren Horizont. Aber egal. Sie war nicht hier, um eine eigene Meinung zu dem Werbedreh zu haben, geschweige denn, Kritik zu üben – sie sollte lediglich schön aussehen, und möglichst grazil über die Felsen springen. Später würde sie noch ein paar Worte sagen müssen, mit einer Flasche der ach-so-wundervollen Lackpflege in der Hand. Sie würde es tun, so wie immer, und sie würde es gut machen. Schließlich war das ihr Job.
„Anna, beeil dich, das Licht ist gerade perfekt!“ Aidan, der Fotograf, riss sie aus ihren Gedanken. Missbilligend sah er sie an. „Warum hast du diese Dinger“ – mit einer angewiderten Geste deutete er auf ihre Pantoffeln, als seien sie giftig, oder so etwas – „immer noch an?“ Damit ich nicht erfriere, du Idiot, antwortete Annabell, aber nur in Gedanken. Sie hatte zu Anfang ihres Modellebens sehr schnell gelernt, dass ihre Meinung niemanden interessierte, und sich öfters bereits gut daran getan, diese nicht zu äußern – zumindest nicht laut. Wenn, dann nur gegenüber ihren Freundinnen, Sandra und Caroline. Die hatten – Gott sei Dank! – rein gar nichts mit dem Modelbusiness zu tun, und so konnte Bella bei ihnen immer sagen, was wirklich in ihr vorging. Das war ein wirklicher Segen, fand Annabell. Sie konnte über nervige Modelkolleginnen lästern und sich über pingelige Fotografen beschweren, verrückte Anekdoten loswerden, ohne dass sie ein Blatt vor den Mund nehmen musste. Die beiden lachten sich regelmäßig kaputt über Annabells Geschichten. Sandra und Caro waren ihre Freundinnen seit der Schulzeit, und sie standen sich sehr nahe. Ihr Ruhepol, ihr Anker, um in der Realität zu bleiben und nicht komplett von dem Irrsinnsgeschäft des Modelns aufgesogen zu werden. Sie liebte die beiden, als seien sie Schwestern, und wenn sie sich mal eine Weile nicht sahen, texteten sie sich doch regelmäßig. Auf der Arbeit hielt sie sich meist bedeckt, und tat, was man von ihr verlangte. Bei den Fotografen und den Werbeleuten war sie daher beliebt – sie hatte sich ihren Ruf lange erarbeitet. Sie war pünktlich, zuverlässig und diszipliniert. Sie rauchte nicht, sie trank nicht, wenn sie am Tag darauf ein Shooting hatte, und sie war noch nie aus der Rolle gefallen. Wenn ein Kunde sie buchte – für viel Geld – bekam er etwas dafür, denn sie war ein Profi. Unter den anderen Models hingegen hatte sie den Ruf, arrogant und eingebildet zu sein. Sie erschien zwar immer zu den einschlägigen Partys, das gehörte schließlich zum Spiel mit dazu, aber sie feierte nie ausgelassen mit. Meistens ging sie, dekorativ ein Champagnerglas in der Hand haltend, herum und knüpfte Kontakte, flirtete hier und da. Und so schnappte sie vielen anderen mit Leichtigkeit die Jobs vor der Nase weg. So wie diesen hier. Eigentlich hatte das Werbeteam der Autopolitur eine Blondine gewollt – doch kaum war die elegante, schwarzhaarige Annabell als flirtender Vamp auf sie zugekommen, waren sie eingeknickt und hatten sich umentschieden. Und deshalb stand sie jetzt hier, schlüpfte aus ihren geliebten, warmen Puschen, um mit betont gelassener Miene, jetzt barfuß, ihren Kimono aufzuknoten. Aidans Laune schien sich augenblicklich zu bessern. „Na gut, Anna“, sagte er, jetzt lächelnd, „ab in die Fluten mit dir!“
Zwei Stunden und ungefähr drei Millionen Posen später hatte sie es hinter sich. Annabell winkte Aidan hinterher, der filmreif auf seinem Motorrad davonbrauste. Sie hatte sein Angebot abgelehnt, sie noch zurück ins Hotel zu bringen. Erstens, weil sie selbst mit dem Auto da war – ihr kleiner Mietwagen wartete auf dem Parkplatz auf sie – und zweitens, weil sie Aidan kannte. Er war nett, echt nett, zugegeben, aber er hatte es bereits das… nun ja… ein oder andere Mal bei ihr versucht. Und nicht nur bei ihr. Das wusste sie, weil sie hinschaute, und hinhörte. Das taten nicht alle ihrer Modelkolleginnen. Und so hatte Aidan eben, genau, die ein oder andere bereits abgeschleppt. Und das wollte Annabell nicht. Ansonsten war der Tag so gut verlaufen, wie es bei den erbärmlichen Temperaturen und dem sinnfreien Skript überhaupt möglich gewesen war. Sie hatten heute die komplette Printwerbung geshootet, so dass sie morgen nur noch den Dreh für die Fernseh- und Onlinewerbung vor sich hatten – perfekt. Das hieß, sie wäre schon übermorgen, am Montag, wieder zuhause, und es würde kein weiterer Drehtag drangehängt werden müssen – das liebten die Produzenten, die Fotografen, die Stylisten, die Models… kurz gesagt, alle, und am allermeisten die Oberbosse, deren Geld das ganze kostete. Annabell hatte sich den Ruf erworben, hoch professionell und effizient zu arbeiten, und das wusste man in der Szene zu schätzen. Und auch dieses Mal würde sie niemanden enttäuschen.
Am nächsten Tag, nach stundenlangen Drehs für den Werbespot, wollte Annabell nur noch eins – nach Hause. Der Atlantik war nicht wärmer geworden, und den Werbeslogan hatte sie so oft wiederholt, dass sie befürchtete, ihn niemals wieder aus dem Kopf zu bekommen. „MegaShine – lassen Sie Ihr Auto strahlen!“, hatte sie gefühlt tausende Male enthusiastisch gerufen und eine Flasche des Wundermittels in die Kamera gehalten. MegaShine , verdammt, davon werde ich heute Nacht in meinem Bett bestimmt sogar träumen… Doch Sehnsucht breitete sich in Annabell aus. Ihr Bett, ihr Zuhause. Ihr Heim war eine große Wohnung in einer noch recht neuen, nun ja, Residenz für die gehobenen Ansprüche (so hatte es damals in der Werbebroschüre gestanden), und sie hatte sie erst vor knapp zwei Jahren bezogen. Sie hatte noch immer die Worte ihres Vaters im Ohr, der ihr geraten hatte, erst alles zusammenzusparen, und dann erst eine Wohnung zu kaufen… „Bella, mein Schatz, verschulde dich niemals!“ Einfach war ihr Elternhaus gewesen, aus bescheidenen Verhältnissen. Viel Geld war nie da gewesen, Not aber auch nicht. Ihre Eltern waren sparsame, fleißige, rechtschaffene Leute. Auch jetzt, als Annabell mehr als gut verdiente, trauten sie dem Braten noch nicht so recht. Und so hatte Annabell fast vier Jahre lang wie eine Besessene gearbeitet, war von Jahr zu Jahr erfolgreicher geworden, und hatte immer noch bei Mama und Papa im Kinderzimmer gewohnt. Heute schmunzelte sie darüber, aber auch sie selbst war der Meinung, dass es richtig und wichtig gewesen war. Sie hatte mehr und mehr verdient, aber immer das meiste zur Seite gelegt. Vorsichtige Versuche, ihre Eltern zu unterstützen, waren meist gescheitert. „Wir haben doch alles“, pflegten sie zu sagen. „Es fehlt uns an nichts.“ Das einzige, was sie Annabell nach viel Hin und Her dann doch erlaubten, war, ihnen eine Urlaubsreise zu schenken – sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater träumten schon seit Jahren davon, eine Kreuzfahrt zu machen. Kleinere Urlaube waren immer mal wieder möglich gewesen, aber eine derartige Ausgabe war einfach undenkbar gewesen. Und so hatte Annabell ihren Eltern zur Silberhochzeit eine Kreuzfahrt durch die Karibik geschenkt, mit allen Extras und Schikanen. Überglücklich waren sie abgereist, und noch glücklicher zurückgekommen. „Kind, es war wunderbar!“, hatten sie gejubelt, aber noch im gleichen Atemzug hinzugefügt, „Wir sind so froh, wieder zuhause zu sein!“ Bella hatte gegrinst und sich mit ihnen gefreut. Typisch. Sie schenkte ihren Eltern eine Luxus-Reise, und sie sehnten sich nach ihrer kleinen Wohnung mit den abgewohnten Möbeln… Dennoch, sie sahen gemeinsam die Fotos an, schwelgten in Urlaubserinnerungen, noch Jahre danach. So waren sie eben. Und nach vier Jahren erfolgreicher Modeltätigkeit und Sparsamkeit hatte Annabell dann, nun ja, richtig viel Geld angespart – genug, um sich Apartment 27D zu leisten.
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