Und während seine Kollegen sich dem hehren Ziel gewidmet hatten, dem Geheimnis um den Heiligen Gral auf die Spur zu kommen, einen Beweis für die Existenz Gottes in den Händen zu halten, hatte er sich der Suche nach schnödem Mammon verschrieben. Und jetzt stand er kurz vor seinem langersehnten Durchbruch. Nein, er musste sich korrigieren. Vielleicht wusste er doch, was ihn zur Zielscheibe machte. Seit Jahrhunderten gab es viele Abenteurer, die durch die Verheißung des Goldes angelockt wurden. Viele davon waren sicherlich bereit, sehr weit zu gehen, um ihr Ziel zu erreichen. Und er, Wolfgang Bergmann, stand ihnen dabei im Weg.
Bevor er sich wieder der grausamen Welt stellte, atmete er tief ein. Er war ein Einzelgänger, große Menschenmassen machten ihm Angst. Er konnte sich allerdings nicht ewig in der Telefonzelle verstecken. Er setzte seinen Hut auf und zog ihn tief ins Gesicht, bevor er die bedrückende Enge der Telefonkabine verließ und schnellen Schrittes den Bürgersteig hinablief.
Es war Abendzeit und viele Menschen waren auf dem Weg nach Hause, oder nutzen die letzten verbliebenen Sonnenstunden des Tages für einen kleinen Stadtbummel. Zu viele . Es waren einfach zu viele. Ihre Nähe ängstigte ihn. Jedes Mal, wenn ihn versehentlich jemand streifte oder berührte, zuckte Bergmann alarmiert zusammen. Er musste aus der Menge heraus; sie schnürte ihm die Luft ab. Panikartig hechtete er durch den endlos wirkenden Strom aus namenlosen Gesichtern, die ihn irritiert oder mitleidig anstarrten, wenn er sich leise murmelnd an ihnen vorbeidrängelte. Verwünschungen folgten seinem Weg, wenn wieder jemand seinen hektischen Schritt gekreuzt hatte. Er blieb nicht stehen, um sich zu entschuldigen. Er hetzte weiter, so schnell ihn seine schmerzenden Beine trugen. Es war die nackte Angst, die ihn antrieb. So viele Menschen . Das überwältigende Gefühl der Bedrohung wurde immer stärker und trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Er warf des Öfteren einen hektischen Blick über die Schulter, aber in der Menschenmasse war potenziell jeder ein Verfolger, der es auf ihn abgesehen haben konnte. Sie alle wirkten verdächtig wie unverdächtig.
Dabei waren alle Menschen lediglich harmlose Passanten, die von dem verwirrten alten Mann kaum Notiz nahmen. Alle, bis auf einen, der Bergmann unauffällig im Abstand von mehreren Metern folgte.
(5) 1. April, Münchener Innenstadt
So musste sich ein Beutetier fühlen, das den Jäger bereits witterte, obwohl weit und breit keine Bedrohung zu sehen war. Seine Angst war nicht rational zu erklären; es war vielmehr ein Gefühl, ein Urinstinkt, der ihn mit leiser Stimme vor einer unbekannten Gefahr warnte.
Sein Pulsschlag beschleunigte sich mit jedem Schritt, während die Angst ihm die Luft abschnürte. Er begann zu laufen. Seine Atemnot manifestierte sich schmerzhaft in der Form von Seitenstechen; seine Beine schienen sich angesichts der ungewohnten Anstrengung in Pudding zu verwandeln. Bergmann ignorierte die Protestschreie seines Körpers. Er wagte es nicht, langsamer zu werden.
Der Weg schien endlos. Erst nach einer halben Ewigkeit erreichte Bergmann das Ende der Einkaufsstraße. An der nächsten Ecke bog er rechts ab. Im Vergleich zu der belebten Fußgängermeile wirkte die vor ihm liegende Straße nahezu wie ausgestorben. Sie war nicht mehr als eine schmale Seitengasse, in die sich nur selten ein Passant verirrte und in die zwischen den langen Häuserreihen kaum ein Lichtstrahl fiel.
Sein suchender Blick fiel auf einen gelben Kasten, der sich mit seiner Farbe leuchtend vom trüben Einheitsgrau der Gebäude abhob. Ein Briefkasten . Genau das, wonach er Ausschau gehalten hatte. Er zog einen Umschlag aus seinem Anzug und ließ ihn hinter der gelben Klappe verschwinden.
Er fühlte sich etwas besser, nachdem er diese Bürde losgeworden war, aber sicher würde er sich erst fühlen, wenn er endlich seine Fahrertür zugezogen und hinter sich verriegelt hatte. Sein Auto stand nicht weit entfernt. Dreihundert Meter, und er war endlich in Sicherheit. Er zog seinen Mantel in einer nutzlosen Schutzgeste enger um den Körper und verfiel wieder in einen regelmäßigen Trab, obwohl seine Kräfte zusehends erlahmten. Seine Füße schlurften eher über den Asphalt, als dass sie liefen. Die Panik hatte sich inzwischen wie ein stählernes Korsett um sein Herz gelegt, das sich immer enger zuzog. Die Angst war es, die ihn unaufhörlich vorantrieb.
Vielleicht bildete er sich tatsächlich alles nur ein. Er war alt und sicherlich nicht mehr ganz bei der Sache. Kollegen hatten ihn bereits früher als Paranoiker beschimpft, was von der Wahrheit leider nicht sonderlich weit entfernt war.
Dieses Mal ging es allerdings über simplen Verfolgungswahn hinaus. Dieses Mal war alles anders. In der letzten Woche waren Sachen passiert, die er sich nicht erklären konnte. Beunruhigende Sachen. Seine Wohnung war zum Beispiel durchsucht worden, da war er sich sicher. Augenscheinlich hatte sich zwar alles an seinem angestammten Platz befunden, aber er hatte die ungebetene Präsenz einer anderen Person spüren können, als hätte der Eindringling einen unsichtbaren Abdruck seines Körpers in der Luft zurückgelassen. Es waren kleine Details, die ihm ins Auge gefallen waren. Stifte, die ein bisschen anders lagen, als er sie zurückgelassen hatte. Ein Papierstapel, der etwas näher zur Tischkante gerückt war. Und sein Schlüsselbund, der sich merkwürdig seifig anfühlte, als hätte jemand einen Abdruck von den einzelnen Schlüsseln gemacht.
Das hatte er sich alles nicht eingebildet. Ganz sicher nicht .
Das war allerdings nicht alles. So besorgniserregend, wie diese Entdeckung war, Todesangst hatte sie nicht ausgelöst. Im Gegensatz zu dem plötzlichen und brutalen Tod des Händlers, der ihm das Artefakt verkauft hatte. Er war in seinem Antiquitätenladen ermordet worden, die Kehle vom linken bis zum rechten Ohr durchgeschnitten, seine Habseligkeiten durchwühlt. Nur wenige Tage, nachdem sie sich getroffen hatten. Raubmord, sagte die Polizei, aber Bergmann wusste, dass der Mörder etwas anderes gesucht hatte. Etwas, das sich jetzt in seinem Besitz befand.
Er hatte keine Wahl. Er musste untertauchen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Mörder auch auf ihn aufmerksam werden würde, wer immer der Killer auch war. Und er konnte sich nicht sicher sein, ob ihn der Antiquitätenhändler nicht doch vor seinem Tod noch verraten hatte.
Inzwischen war sein Auto in Sichtweite geraten. Es war alt und schäbig, aber in diesem Moment wirkte es wie eine gewaltige Festung auf ihn, wie der sichere Schoß einer fürsorglichen Mutter. Erleichterung keimte in ihm auf und schenkte ihm die Kraft, die letzten Meter zu überstehen, ohne zusammenzubrechen.
Hektisch blickte er sich um. Weit und breit war niemand zu sehen. Der Parkplatz lag von Menschen verlassen vor ihm, lediglich ein paar Autos standen vereinzelt auf der großen Betonfläche. Er hatte außerhalb geparkt, in der Hoffnung, möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen, aber inzwischen bereute er seine Vorsicht. Diese Parkmöglichkeit war für die meisten Stadtbesucher zu weit entfernt. Es verirrte sich nur selten ein Geizhals auf diesen Abstellplatz, der die paar Euro für eines der Stadtparkhäuser sparen wollte. Das bedeutete allerdings auch, dass ihn hier draußen, weit entfernt von den belebten Straßen, niemand würde schreien hören. Dieser Gedanke zog sich wie eine Schlinge um seinen Hals und erschwerte das Atmen zusätzlich.
Bereits im Laufen fingerte Bergmann seinen Fahrzeugschlüssel aus der Tasche. Sein Auto war zu alt, um über neumodischen Schnickschnack wie eine Zentralverriegelung zu verfügen. Mit zitternder Hand versuchte er, den Schlüssel in das zerkratzte Schloss zu fummeln, aber er entglitt seinen steifen Fingern. Mit einem lauten Klirren verschwand er unter dem Fahrzeug. Leise fluchend sank Bergmann auf die Knie. Eine neue Welle von Schmerzen bahnte sich ihren Weg durch seine Beine. Er stöhnte auf.
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