"That's against the Geneva Convention!" flucht der Sergeant.
Er hat die Lähmung der Überrumpelung überwunden, die er sich nicht verzeihen kann, ebenso wenig wie er diesem Nazistrolch verzeiht, dass der ihn gegen jede Fairness auszurauben gedenkt.
"Was meckert er?" schreit Malleck in das Ohr Hesses, und der schreit zurück: "Er sagt, die Uhr dürfe ihm niemand abnehmen, das verstoße gegen die Soldatenehre und die Genfer Konvention."
Hesse hofft, dass die Erweiterung des Satzes um die Soldatenehre Malleck umstimmen könne, aber er erreicht das Gegenteil. Malleck schäumt. Er reißt die MPi in die Hüfte und brüllt: "Du bist unser Gefangener - und nicht in Genf. Ich zähle bis drei!"
Ohne aufgefordert zu sein, übersetzt Hesse hastig und bittet den Sergeanten eindringlich, jetzt nachzugeben, später würde er die Uhr zurückbekommen.
Sergeant Hampstead hat heute einmal gezögert. Diese Schwäche soll sich nicht wiederholen. Er wird nicht abermals auf einen Bluff hereinfallen.
Mallecks Hirn funktioniert in kaltem Hass. Dieses Schwein tut, als handelt es sich um eine Heldenszene im Theater, will mich zum Hanswurst machen vor den beiden. In wenigen Sekunden krepieren hier die ersten Granaten. Da geht's ums Leben. Ich will befördert werden, nicht verrecken. Dann lieber der. Mit ihm wird die Rückreise sowieso lebensgefährlich. Seinen Pass habe ich und seinen Krimskrams, ebenso klarer Beweis wie ein lebender Ami. Malleck hebt ein wenig den Lauf der MPi. "Also?"
Der Sergeant sieht ihm trotzig ins Gesicht. "No!"
Malleck zählt nicht bis drei. Sein kurzer Feuerstoß geht unter in der Lärmorgie. Mit entsetzt aufgerissenen Augen sinkt der Sergeant um.
"Deckung!" gurgelt Truff, und die drei werfen sich zur Erde, drücken sich hinter schützende Steine. Felssplitter sirren.
Hesse spürt einen dumpfen Schlag auf den Hinterkopf, und die Betäubung überfällt ihn so schnell, dass er den begonnenen Gedanken nicht mehr zu Ende denken kann.
Als er wieder zu sich kommt, reißt er den Stahlhelm herunter und befühlt seinen Kopf. Eine Beule, kein Blut. Wahrscheinlich ein Felsbrocken. Der Stahlhelm hat das Gröbste abgehalten. Hesse hebt ein wenig den Kopf und lauscht. An die hundert Meter entfernt, trommelt das Sperrfeuer ins taube Gestein. Von Malleck und Truff ist keine Spur. Schwerfällig, mit schmerzendem Schädel erhebt sich Hesse und ruft. Nichts, nur das Inferno, das an ein abziehendes Gewitter erinnert, tobt dort hinten. Plötzlich fährt ihm der Gedanke durchs Hirn: der Sergeant.
Er liegt, wie er umgesunken ist, mit blutdurchtränkter Kleidung.
Hesse reißt ihm das Hemd auf und drückt das Ohr an die Brust. Er kann in der Aufregung keinen Herzschlag hören, aber er spürt, da ist noch Leben. Mit fahrigen Händen reißt er die Verbandpäckchen aus dem Brotbeutel, verbindet die Wunde an der Schulter und die oberhalb der Hüfte. Dann ist der Verbandmull aufgebraucht. Mit dem eigenen Hosenträger bindet Hesse den Oberschenkel ab, dessen Wunde am stärksten blutet. Der Sergeant stöhnt auf und kommt zu Bewusstsein. Hesse stützt ihm den Kopf und hält ihm die Feldflasche an die Lippen. Der Sergeant schluckt mehrmals gierig, dann sinkt er wieder in Ohnmacht. Er lebt, hämmert es in Hesse. Heftig wirft er das Koppel neben die Maschinenpistole und rennt los.
Mit rasenden Pulsen steht er vor jenem Ausguck. Funken tanzen ihm vor den Augen, sein Atem ist ein Röcheln, das Herz scheint aufgequollen und droht ihn zu ersticken. Mit zusammengebissenen Zähnen klimmt er hinauf, stellt sich aufrecht auf den Felsen und winkt. "Hello, soldiers, don't shoot! - hello - hello!"
Wo das Scherenfernrohr gestanden hat, sitzt jetzt einer mit einem großen Feldstecher. Er bemerkt Hesse zuerst, und im nächsten Augenblick sieht der Steinwall aus, wie mit Soldatenköpfen bestückt. Gewehre gehen in Anschlag.
"Don't shoot!" Hesses Stimme überschreit sich zu heiserem Krächzen. Er klettert vom Felsen und rennt geradewegs durch die Mulde auf den Steinwall zu. Die Knie werden wie Gummi, vor Erschöpfung stürzt er nieder, japsend, lang ausgestreckt, bleibt er liegen. Kurz darauf ist er umringt. Sie stehen und schauen auf ihn wie auf eine Erscheinung. Ein stämmiger Corporal fragt: "What's the matter with you?"
Stoßweise, in abgebrochenen Sätzen spricht Hesse. Schnell, ganz schnell. Der Sergeant müsse sofort ins Lazarett.
In ihren Gesichtern hockt Misstrauen. Eine Falle der damned Germans?
Ob er sie zum verwundeten Sergeanten führen wolle, fragt der Corporal.
Heftig bejaht Hesse.
Ein Offizier kommt vom Steinwall. Der Corporal meldet ihm, und der Lieutenant erteilt umsichtige Befehle. Sie traben mit Hesse davon. Zwei GIs gehen voraus, in entsprechendem Abstand folgt eine Sicherungsgruppe, die Schnellfeuergewehre im Anschlag.
Als sie den Sergeanten auf eine Trage betten, erwacht er aus seiner Bewusstlosigkeit und deutet Durst an. Der Lieutenant befeuchtet ihm die Lippen. Im Dauerlauf verschwinden zwei Riesenkerle mit dem Schwerverletzten auf der Trage. Die anderen nehmen Hesse in die Mitte und gehen jetzt langsam. Sie geben ihm Zigaretten. Er raucht eine an, hustet die Entschuldigung heraus, dass er Nichtraucher sei. Sie lachen und klopfen ihm auf die Schulter. "You're a honest fellow, aren't you?"
Uralte Losung sprech ich aus;
ich gebe das Zeichen der Demokratie. Bei Gott!
Ich werde nichts annehmen,
woran nicht ein jeder andere auch seinen Teil haben kann unter den gleichen Bedingungen.
Walt Whitman
Ein Camp, das es nicht geben darf
Nasser Schnee schmatzte unter ihren Gummisohlen. Der kleine, drahtige Wuntram marschierte neben drei anderen in der ersten Reihe. Er marschierte an der Spitze, ohne dass es ihm streitig gemacht worden wäre. Sie schätzten seine unauffällige Tüchtigkeit.
Ein Pfiff gellte und erstarb, als wäre er es müde, die nässliche Luft zu durchdringen. Der Zug auf dem Gleis neben der Straße dampfte langsam davon. Steif und lahm, waren sie eben ausgestiegen, nach dreimal vierundzwanzig Stunden Fahrt durch den halben Kontinent aus der Niederung des Mississippi hinaus in Gebirgsregionen, durch Wälder, Steppen, Riesenfelder und wimmelnde Städte. Unter den missmutigen Flüchen der Posten hatten sie sich zur Kolonne formiert. Sie marschierten ohne Tritt. Die Gespräche tröpfelten schläfrig.
In der zweiten Reihe, neben Walter Bauer, trottete Heinz Hesse, und hinter ihnen kamen Necke, Buschinski, Hellmann, Dieck und alle anderen, die sich vorgenommen hatten, wie in McLoin auch im neuen PW-Camp wieder zur Kompanie Wuntrams zu gehören.
Melancholisch schaute Hesse der kleiner werdenden Wagenschlange nach. Man war also in Massachusetts. Der Name erinnerte an Indianergeschichten. Sanfte Bodenwellen, mit Tannen und Mischwald bestandene Hügel in der Ferne ließen an Deutschland denken. Doch voraus, wohin sich der Heerwurm der achthundert Kriegsgefangenen auf der glitschigen Asphaltstraße bewegte, da lag ein Stück Amerika, wie sie es bis zum Überdruss kannten, eines der tausend Army-Camps, eine kleine Stadt für sich, bis auf wenige Gebäude aus Holz gebaut, auf dem Reißbrett entworfen und wie von Mister Fords Fließband gespuckt. In der Sonne mochten die Baracken weiß strahlen. Der trübe Novembertag gab ihnen die Farbe des grauen Schnees.
"Weihnachten vierundvierzig also in Fort Heaven", nörgelte Necke, "ich lach' mich tot, wenn wir Weihnachten fünfundvierzig auch noch hier sitzen."
Keiner antwortete. Sie nahmen ihm das Gerede übel.
"Seht mal den da", Buschinski wies nach rechts, wahrscheinlich einer von der Army-Zeitung, Stars and Stripes, der unseren glorreichen Einzug filmt."
Fünfzig Schritte entfernt, stand ein amerikanischer Offizier im schnittigen olivfarbenen Wintermantel. Mit einer Schmalfilmkamera visierte er den Zug der Kriegsgefangenen an. Sie konnten das leise Sirren nicht hören, aber sie sahen den Blick des Objektivs ihre Reihen entlangwandern und Bild um Bild schlucken. Irgendwann würden sie nun in Zeitungsspalten erscheinen oder über eine helle Wand marschieren.
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