Carl und Manuel sitzen längst im Wagen, damit beschäftigt, mit den Unterarmen die beschlagenen Scheiben trocken zu wischen.
Ich steige hinten ein und lasse mich erschöpft auf die Rückbank fallen, völlig durchnässt, weil mich der Taxifahrer nach Erhalt des Fahrgelds, begleitet von einer zaghaften Beschwerde meinerseits, ziemlich grob ins Freie befördert hat, grußlos, mit der fadenscheinigen Ausrede, er dürfe weder da noch dort anhalten, sondern ausschließlich hier. Und dieses Hier heißt ungefähr zweihundert Meter Entfernung zu Carls Wagen, heißt demnach zweihundert Meter Fußmarsch durch orkanartige Gewitterböen, sodass sich meine Flipflops wie zwei Stangen Zuckerwatte nahezu in Nichts auflösen, heißt: Ich hätte gleich mit meinen Freunden mitlaufen können, barfuß, gratis.
Carl dreht mit der rechten Hand den Zündschlüssel und schmiert mit dem Rücken der linken über die Seitenscheibe. Manuel niest.
„ Noch ein zweites Mal Die Wand angesehen, was?“ , fragt Carl.
„ Und, wie ich sehe, endlich ohne Genierer die Kleider vollgeweint,
weil Carl und ich nicht mehr zugegen waren?“, fragt Manuel.
„ Der Hund hat sehr gut gespielt“ , sage ich, gleichsam als Entschuldigung für mein Zuspätkommen, bemüht, meine Atmung unter Kontrolle zu bringen, die Schwermut aus dem Film zu nehmen und Manuel daran zu erinnern, Carl daran zu erinnern, Manuels Hundsvieh abzuholen.
Manuel, der wie immer sofort versteht, was ich meine, sagt:
„ Apropos Hund, Carl, vergiss nicht, Hundsvieh abzuholen, du weißt, ich hab`s meiner Frau versprochen und, an mich gewandt:
„ Paul, drehst du mir eine Zigarette?“
„ Gern“ , lüge ich.
„ Das Hundsvieh hätt ich jetzt glatt vergessen“ , sagt Carl genau in dem Moment, als Manuels Handy läutet. Manuel schaut auf das Display, lässt betont langsam den Blick zuerst in die Nebellandschaft schweifen, dann zu Carl und schließlich zu mir, zündet sich die von mir gedrehte, von ihm geleckte Zigarette an, die gesenkten Augenbrauen und die fächelnde Handbewegung von Carl ignorierend, drückt die grüne Taste, hält das Handy dicht an sein Ohr, meldet sich mit „Hallo, Schatz“ und hört eine Weile still zu.
Carl dreht seinen Kopf zu mir her, schüttelt ihn, gibt im Rhythmus des Kopfschüttelns ruckartig Gas, was wohl daran liegt, dass er barfuß ist, und formuliert mit den Lippen:
„ Siehst du. Ich hab`s doch gleich geahnt.“
Manuel scheint die aufkeimende Unruhe zu spüren, drückt das Handy noch näher an sein Ohr und flüstert hinein:
„ Ja. - Ja. – Ja. Toller Film – Ja. – Ja. War erst kurz nach vier zu Ende. – Ja. - Nein. – Weiß ich. - Mach ich. – Ja. Jaja. – Ja, ja gut. – Ja. – Jaja. – Ja klar. – Ja. – Ja, seh ich ein. – Jaja. Natürlich. – Ja, ich auch. – Ja, du dir auch. - Ja, richt ich den beiden aus. – Ja. Ich dich auch.“
Carl dreht sich erneut zu mir und sagt halblaut:
„ Übrigens, Paul: Ich darf dich jetzt schon höflich daran erinnern, dass du, als Verlierer der Wette, heute Abend mit der Bezahlung der Obstler an der Reihe bist.“
Manuel massiert mit beiden Zeigefingern seine Augenlider, das Handy in der rechten Hand festhaltend.
„ Grappas, nicht Obstler“, antworte ich arglos.
Manuel klappt sein Handy zu und blickt versonnen zum Plafond, setzt sich seine Kopfhörer auf, atmet ein paarmal tief durch, drückt an seinem iPad herum, schließt die Augen, zupft an einer imaginären Gitarre und summt eine dissonante Melodie.
Carl hebt die Brauen, massiert mit zehn Fingern das Lenkrad, zwinkert mir über den Rückspiegel zu, wirft Manuel einen kurzen Blick zu, stellt fest, dass wir unter uns sind, und beginnt, Manuels Sprechpausen von vorhin mit Sinn und der Stimme von Manuels Frau zu füllen:
„ Und? Wie war der Film? Ergreifend, was? Hat er den beiden auch gefallen?“
Ich lache in meine Hand, gebe ihm aber augenblicklich mit meinem Zeigefinger an den Lippen zu verstehen, er müsse aufpassen, dass Manuel nichts mitbekomme. Carl nimmt die Hände vom Steuer, lenkt mit den Oberschenkeln weiter, gibt Gas und bedeutet mir mit gefalteten Händen, die er an seine Wange schmiegt, dass Manuel nichts mitbekommen könne, weil er über seiner Luftgitarre eingeschlafen sei. Ich grinse und äffe Selmas Stimme nach:
„ Schatz, du hast das Buch von Marlen Haushofer doch hoffentlich eingepackt? Jetzt hast du ja zwei ganze Tage und Nächte Zeit zum Lesen! Noch dazu im sonnigen Süden, während wir hier schon wieder die Wintersocken auspacken müssen. Ich Berg-Schi, du Wasser-Schi.“
Carl schlägt mit beiden Händen aufs Lenkrad und setzt noch eins drauf:
„ Und, Schatz, du vergisst wirklich nicht auf Hundsvieh? Ihr müsstet doch eigentlich schon längst hier sein. Hundsvieh furzt in einer Natur. Das zeigt mir, wie es sich auf die Almhütte freut. Es braucht wirklich mal wieder ausgiebig Frischluft und ordentlich Auslauf. Und sag bitte Carl, er soll vorsichtig fahren.“
Was sollte das jetzt heißen? Warum erwähnte Carl die Almhütte?
In der Hoffnung, Carl mit Hilfe einer weiteren Frage von Selma die Antwort zu entlocken, gebe ich ihm mit ihrer Stimme einen kleinen Impuls:
„ Wie ich das mit der Almhütte meinte, Schatz?“
„ Äh, Schatz, das wollte ich dir ja gerade vorschlagen: Wenn ihr drei schon mal dabei seid, euch zu amüsieren, schaut doch bitte vor Limone noch auf einen Abstecher in Almdorf vorbei, um in der Hütte nach dem Rechten zu sehen“ , antwortet Carl mit einem sarkastischen Unterton, den ich an ihm nicht kenne.
Jetzt habe ich Blödmann es endlich kapiert: Manuels Frau will uns auch heuer wieder von Limone fernhalten - wie schon letztes Jahr. Die will sich das Geld für die teure Sanierung dieser Almbruchbude auf unsere Kosten sparen.
Ich bin gleichermaßen irritiert wie verärgert, dass ich lauter als zuvor in Richtung Manuels Ohr spreche:
„ Lass mich bitte ausreden, Schatz, meine hübsche Almhütte liegt ja in etwa auf eurem Weg. Und nur so ganz nebenbei: Müsst ihr überhaupt nach Limone? Almdorf ist doch genauso schön! Und noch dazu viel näher!“
Manuel hört und sieht nichts, er summt mit geschlossenen Augen unverdrossen vor sich hin, Carl hebt den Daumen, wohl als Zeichen dafür, dass ich endlich begriffen und mit meiner Antwort den Nagel auf den Kopf getroffen habe, und sagt, jedes Wort nach allen Seiten hin mit einem Nicken untermauernd:
„ Ihr spart Benzin und könntet dort oben gleich ein bisschen nach dem Rechten sehen, was meinst du? Und wenn ihr alles erledigt habt, könnt ihr ja, wenn`s denn sein muss, eventuell immer noch nach Italien aufbrechen.“
Ich (stinksauer): „Ihr habt doch euren Spaß da wie dort, oder? Und Hundsvieh befände sich noch dazu auf vertrautem Terrain. In Limone langweilt es sich vielleicht zu sehr. Da fehlen ihm die Berge.“
Carl (feierlich): „ Ich bin schon so gespannt auf deine Interpretation des Romans! Mensch, Manuel, zwei Tage und Nächte Zeit zum Lesen – wenn ich die bloß einmal für mich zur Verfügung hätte.“
Ich (getragen): „Und Paul und Carl sollen dir bitte während deiner Lesepausen bei den Ausbesserungs- und Aufräumarbeiten ordentlich zur Hand gehen!“
Carl (gönnerhaft): „Meinetwegen kannst du ihnen ja dafür ein Stamperl Obstler servieren. In der Kredenz müsste sich noch eine angebrochene Flasche vom letzten Jahr befinden. Aber vergiss nicht, die Flasche wieder gut zu verschließen! Dann müsste der Schnaps für Juli nächsten Jahres reichen!“
Ich (sehr ernst, lange nicht so feierlich wie vorhin Carl):
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