Heinz-Jürgen Schönhals
Ulrike D.
oder: Die wiederkehrenden Träume des Elmar Redlich
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Inhaltsverzeichnis
Titel Heinz-Jürgen Schönhals Ulrike D. oder: Die wiederkehrenden Träume des Elmar Redlich Dieses ebook wurde erstellt bei
Eine Reise zu Verwandten
Rückkehr in die alte Heimat
Die Erzählung von der verlassenen Braut
Der Runenweiher
Der Jugendfreund
Der Pfadfinder
Osterlager in Haus ’Sternbald’
Berichte über gute pfadfinderische Taten
Erster Bericht: Die fatale Lydia
Zweiter Bericht: Der unsympathische Amtsgerichtsrat
Die Warnungen des ehemaligen Pfadfinders
Der brutale Mathematiklehrer
Abschied von der Pfadfinderzeit
Die Prüderie der Fünfziger Jahre
Julia
Das Tanzfest
Waldwanderung oder die Suche nach der seltenen Wildtulpe
Gustav Höhne und sein unvollendeter ’Orpheus’ - Roman
Cousin Hermann Beyer
Die Kriegserzählungen des Cousins
Julia zum Zweiten
Neue Bekanntschaften auf der Universität
Der mühsam geknüpfte Gesprächsfaden
Das Misstrauen
Ulrike D. und die Examensfeier bei Joachim Schaller
Irritierende Gerüchte
Unheimliche Orte
Ende eines Kapitels und Neuanfang
Studentin Iris Bürgel
Djamila Kermali oder die empfindsame Seele eines alternden Mannes
Noch einmal Iris Bürgel
Professor Dr. jur. Gebhard Wölfel
Schuldgefühle und die Beschwörung der Liebe Gottes
Und wieder: Julia
Erinnerungen an Ulrike D.
Impressum neobooks
Manchmal werden wir von Träumen behelligt, die uns seltsam abergläubisch berühren, weil sie uns wie Projektionen in die dunkle Zukunft vorkommen, als ob jemand das Buch unseres Lebens aufblättert und die noch unbekannten Seiten unserem träumenden Ich entgegenhält. Andere solcher lästigen Träume wiederum lassen fatale Ereignisse unserer Vergangenheit vor unserem träumenden Auge erscheinen, nicht selten in lebhaften, scharf gezeichneten Bildern, und falls es öfter geschieht, spekulieren wir in gleicher Weise, ob hier nicht unbewältigte Konflikte in unserer Seele rumoren oder ein Trauma unserer Vergangenheit, das sich irgendwo in unserer Seele eingenistet, beunruhigende Signale sendet, wie aus einer eingebauten, nicht zur Ruhe kommenden Störquelle.
Von diesen Letzteren wurde Elmar Redlich seit einiger Zeit in Unruhe versetzt, und zwar umso stärker, je mehr sich diese Träume auf unheimliche Weise ähnelten. Wiederholt träumte er, er forsche nach der Adresse von Julia Lambertz, seiner früheren Verlobten. Irgendwo im Norden, bei Hamburg, soll sich ihre Lebensspur verlieren, hatte er herausgefunden - im Traum! Dabei wusste er genau, wo Julia heute wohnt: in einer Stadt in Bayern, und sie ist dort verheiratet und hat eine Tochter mit Namen Jana. Manchmal erschien Julia auch selbst in diesen Träumen, aber mit eigenartig verändertem Aussehen: Zunächst glaubte er immer, er träume von seiner einstigen Verlobten, doch plötzlich glichen ihre Züge einer ganz anderen Person, die er aus früheren Zeiten ebenfalls kannte, allerdings nur flüchtig, denn nur hin und wieder war sie am Rande seines jugendlichen Bekanntenkreises aufgetaucht. Sie hieß Ulrike Düsterwald. Meistens wurde sie Ulrike D. genannt, wegen des langen und düsteren Nachnamens.
Noch eine andere Variante gab es bei dieser Träumerei, seltener allerdings, bisher eigentlich nur zwei- oder dreimal: Die Person, die ihm im Traum erschien, war dann nicht Julia oder Ulrike, sondern ein ihm völlig unbekannter junger Mann. Er wie auch Ulrike warfen Elmars träumendem Ich zuweilen kalte, drohende Blicke zu, und sofort wachte er danach immer auf, tief erschrocken, ja durch den kalten Strahl dieser Augen geradezu erschauert.
Da er immer wieder in dieser alptraumhaften Weise träumte und stets von den gleichen unnützen Gedanken hinterher belästigt wurde, überlegte er, ob er nicht einen Psychologen oder Therapeuten zu Rate ziehen sollte, der ihm diese seltsame Träumerei erklärte und ihn möglichst davon befreite. Doch rasch verwarf er den Plan wieder; er kam ihm albern vor. Außerdem ließ er nur ungern jemanden in seiner Vergangenheit herumspähen. Denn darauf lief es doch hinaus: Der Therapeut witterte irgendein Trauma, das er, Elmar, nicht verarbeitet hatte und das nun in aberwitzigen Träumen ständig wiederkehrend Gestalt annahm. Elmar stellte sich schon vor, wie der Psychologe mit penetranten Fragen forschend in sein Innerstes drang:
’In welcher Beziehung standen Sie, außer zu Ihrer Verlobten, zu dieser Ulrike oder zu diesem jungen Mann, Herr Redlich? Warum blicken Ulrike und der jungen Mann Sie immer so vorwurfsvoll an? Gibt es hier etwas, was Sie mir verschweigen?“
So oder ähnlich oder auch zurückhaltender wird der Therapeut vermutlich seine psychologische Untersuchungstechnik bei ihm erproben und dann mit seinen Ausführungen vielleicht so fortfahren:
„In der Jugend, Herr Redlich, reagiert man oft falsch, man ist naiv, weltunerfahren, bar jeder Menschenkenntnis und als junger Mann selbstverständlich auch bar jeder Kenntnis der Mädchen- und Frauenseele. So haben Sie sich Ihren Mitmenschen gegenüber ganz sicher nicht immer richtig verhalten, Sie haben sich in einem gewissen Sinne schuldig gemacht, schuldig nicht im moralischen Sinne, nein, das ist nicht gemeint! Sondern schuldig im - sagen wir einmal - existentiellen Sinne, und jetzt quillt diese ’Schuld’ in Form von Alpträumen aus Ihrem Unterbewusstsein hervor. Ihre Seele, Herr Redlich, ist diesem Schuldgemenge nicht mehr gewachsen!’
“Garantiert interessieren den Mann alle Details meiner früheren Beziehungen zu Mädchen, zu Frauen“, sprach Elmar leise zu sich, “auch das 'Existentiell-Schuldhafte' würde er ganz sicher mit einer Akribie aus den entlegensten Abstellkammern meiner Seele hervorzerren und inspizieren, dass am Ende dieser Prozedur der ganze stickige Qualm der Schuldgefühle aus meiner Seele entweicht, wie die verdorbene Luft aus einem prall gefüllten Säckchen. Anschließend wird er dann zu mir sagen, im Tone der Selbstgewissheit: ’Die Prozedur hat Erfolg gehabt, Herr Redlich. Sie sind von Ihren Alpträumen befreit!’“
„Oder auch nicht!“, setzte Elmar hinzu, jetzt mit lauter, aufbrausender Stimme, denn das Argumentieren des Psychologen - so wie er es sich vorstellte - hatte ihn wütend gemacht. Nach einigem Nachdenken fuhr er im entschiedenen Tone fort: „Nein, diese wahrscheinlich teure Rosskur kommt für mich nicht in Frage! Ich mach’ es anders: Ich forsche selbst nach den Ursachen. Indem ich die wichtigsten Vorkommnisse meiner Vergangenheit untersuche, stoße ich ganz von selbst auf die genannte Störquelle, und durch eine akribische Untersuchung im Umfeld der „Quelle“ befreie ich mich von meinen Alpträumen, oder anders gesagt: ich drehe dem Störsender mit einem erlösenden Handgriff den Strom ab; schon ist meine Seele entlastet, schon hat mein Gehirn keinen Anlass mehr, mich weiter mit unangenehmen Träumen zu belästigen.“
Allerdings, da gab es ein Hindernis: Elmar Redlich blickte nicht gerne zurück. Allenfalls tat er es unfreiwillig, bei einem Treffen mit alten Freunden, wenn sentimentale Erzählungen und der Zauberer Alkohol seine Seele übertölpelten. Im nüchternen Zustand kam ihm die Vergangenheit immer wie eine verstaubte Dachkammer vor, in die hineinzugehen er nicht die geringste Lust verspürte. Denn was erwartete ihn dort anderes als der trostlose Anblick eines Bereichs, wo altes Zeug, Sperrmüll und Plunder, herumsteht und herumliegt, was ihm früher einmal - unverbraucht und neu - etwas bedeutete, wo sein einst pralles, buntes Leben nun als konturloses Schattenspiel an ihm, dem Zurückblickenden, vorüberzieht, wo ihm ständig der kalte Hauch des Unwiederbringlichen entgegenweht und er das längst Erledigte, das, womit er sich seit langem hat abfinden müssen, nur noch in vergilbten Fotos oder altfränkischen Gemälden betrachten oder rückschauend in Selbstgesprächen erörtern kann.
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