Heinz-Jürgen Schönhals - Ulrike D.

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In diesem Entwicklungsroman erinnert sich Elmar Redlich verschiedener Ereignisse seines Lebens. Dabei macht er eine merkwürdige Erfahrung: Obwohl er an sich die Dinge aus der Perspektive der Vernunft betrachtet, kann er die irrationale Vorstellung nicht ganz unterdrücken, unser aller Leben sei letztlich von einer anonymen Schicksalsmacht, der wir ausgeliefert sind, beeinflusst, und zwar nach Maßgabe der Schuld, die wir auf uns geladen haben. Gleich am Anfang taucht dieses irrationale Phänomen in Gestalt seltsamer, wiederkehrender Träume auf, in welchen dem Protagonisten ein Mädchen namens Ulrike D. erscheint, eine flüchtige Bekannte seiner Jugendzeit. Manchmal auch starrt ihm in diesen Träumen ein junger, unbekannter Mann mit unheimlichem Blick entgegen. Er meint, irgendein Schuldkomplex sei Auslöser dieser Träumerei. – Eine Reise in die alte Heimat (Waldstädten) stellt Elmar eine Wiederbegegnung mit seiner früheren Verlobten Julia in Aussicht. Seine Alpträume bringt er auch mit dem einstigen Zerwürfnis zwischen Julia und ihm in Verbindung. Elmar hat das Gefühl, Julia wolle zu ihm zurückkehren und ihm eine neue Heimat ermöglichen, die er bei seiner Familie nicht mehr findet; seine Ehe mit Lisi befindet sich in einer Krise. – Das Motiv der Schuld taucht auch in zwei anderen Ereigniskomplexen, ebenfalls zu Beginn des Romans, auf: Zuerst erinnert sich Elmar einer Katastrophe seines Lebens: Er war einmal fürchterlich «unter die Räder gekommen» und führte seit jeher diesen «Absturz» auf eine Strafe Gottes zurück. Doch außer irgendwelcher «Unkorrektheiten» fällt ihm als «Schuld» nichts weiter ein. Zum anderen denkt er an ein Gemälde, das ein Ereignis aus der Kleistnovelle «Bettelweib von Locarno» wiedergibt. Auch hier wird ein Mensch vom Schicksal furchtbar heimgesucht, aber eine Schuld des Mannes ist kaum ersichtlich, obwohl dem Leser der Novelle eine solche Schuld ständig nahegelegt wird.

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„Über uns?“ warf Heberer ein und grinste.

„Ich meine: über den einen oder anderen! Hier kann man doch nicht mit der Moral­messlatte kommen, hier kann man nur noch....äh.... wie soll ich sagen: nur noch .... sich abfinden.“

„Ja, abfinden ... ist das richtige Wort“, bekräftigte Heberer Reitmeiers Ansicht, „frü­her konnte man ja noch wegen Ehebruchs vor Gericht ziehen, aber heute gilt das nicht mehr. Man hätte von dem Ehemann der Krankenschwester auch erwarten kön­nen, dass er sich abfindet. In solchen Situationen...., tja, was bleibt einem Mann an­deres übrig....? Sich deshalb gleich das Leben zu nehmen....., also, ich muss schon sagen....“

„Aber die Frage der Schuld bleibt dennoch bestehen“, meinte Elmar, „wir sind schließlich keine reinen Naturwesen wie die Tiere, wir haben eine Vernunft, und hier haben halt auch Kategorien wie Moral, Schuld, Verantwortung und Sühne ihre Be­rechtigung. Niemand kann diese Krankenschwester einfach von Schuld und Verant­wortung freisprechen, nur weil sie dem Ruf der Natur gefolgt ist. Schließlich tat sie das ohne Rücksicht auf Verluste.“

„Was soll denn mit der Frau geschehen? Soll man sie vor Gericht zerren, weil sie sich an ihrem Mann schuldig gemacht hat?“ rief Ludwig Heberer in scharfem Ton aus, „wir sind doch nicht mehr im Mittelalter oder bei den Arabern, wo man eine sol­che Frau steinigt!“

„Du huldigst wohl dem Satz ’Alles verstehen heißt alles verzeihen’, was!“, sagte El­mar.

„Nein, ich huldige allein einer vernünftigen, aufgeklärten Weltanschauung, und rede nicht einem bigotten, moraldurchtränkten religiösen Fanatismus das Wort!“

Elmar musste nachgeben. Da auch Karl Friedrich seinem Kollegen Heberer zu­stimmte, konnte sich Elmar mit seiner die Moral und das Schuldprinzip berücksichti­genden Auffassung nicht durchsetzen. So fand er sich damit ab, dass hier Meinung gegen Meinung stand, und ließ diesen Gegensatz der Auffassungen einfach im Raum stehen. -

Elmar hatte gerade die Autobahn erreicht, und sein Wagen begann rasant an Fahrt zu gewinnen. Nicht mehr musste er hinter schweren Lastkraftwagen, die sich wieder sonder Zahl auf der Landstraße getummelt hatten, im Schneckentempo herfahren, er konnte endlich das Gaspedal durchtreten und zu seiner Zufriedenheit beobachten, wie die Landschaft nur so an ihm vorbeiflog. Da überfiel ihn plötzlich eine starke Müdigkeit, kaum dass er gerade einmal zehn bis fünfzehn Kilometer auf der Auto­bahn zu­rückgelegt hatte.

Rasch entschloss er sich, auf dem nächstbesten Park­platz anzuhalten und die lästi­gen, nicht ungefährlichen Schlafattacken durch ein kurzes „Nickerchen“ sanft aus seinem Kopf zu streichen. Nachdem er auf dem Parkplatz den Motor abgestellt und die Zentralverriegelung betätigt hatte, nahm er sogleich eine Schlafstellung ein und erwartete, da er ja müde war, dass er unverzüglich einschlafen werde. Doch da hatte er sich getäuscht. Statt zu schlafen, kauerte er hell wach auf seinem Sitz und ließ gleichgültige Blicke über die eintönige Landschaft rings um den Parkplatz schwei­fen. Dabei gingen ihm wieder Schulprobleme durch den Kopf, diesmal nicht ärgerli­che Erlebnisse mit den Kollegen Heberer oder Reitmeier, sondern einige Szenen aus der letzten Unterrichtsstunde in der 12c. Er gehörte zu den Leh­rern, die nicht schnell abschalten können: Schulereignisse und Schülerque­relen trug er meist noch lange mit sich herum.

Ein Satz Jokastes, gesprochen zu König Oedipus, hatte im Mittelpunkt der Diskussi­on in der 12c gestanden: „Wozu plagt sich der Mensch mit Angst? Der Zufall herrscht! / Vorsehung, klar bestimmte, gibt es nicht......“ Das Hin und Her der Schü­lerargumente wirbelte erneut in Elmars Kopf herum. Verärgert über dieses Nachhal­len, versuchte er zunächst vergeblich, die kreisenden Gedanken aus seinem Kopf zu verscheuchen. Als ihm auch noch der Spruch eines Schülers einfiel: ‚Müssen wir un­bedingt am letzten Tag noch den Sophokles beackern?’, probierte er es mit einem alten Trick: Er sagte laut: „Gedanken stopp!“, dann lehnte er sich in sei­nem Sitz zu­rück, schloss die Augen und presste beide Hände gegen die Schläfen. Tatsächlich, die Gedanken gehorchten, die Schulprobleme ver­flüchtigten sich, sein befreites Gehirn konnte endlich das ersehnte Einschlaf­signal geben, und prompt fiel er entspannt ins Unbewusste. Doch die Ent­spannung hielt nicht lange an. Denn wieder fing er an zu träumen, wieder störte der alte, sattsam bekannte Alptraum seinen Schlaf, geisterte einige Zeit in seiner ruhebedürftigen Seele herum und erschreckte sie mit seinen Schauerbildern. Natürlich blickten ihm da im Traum nicht Julias Augen ent­gegen. Er wusste das. Er wusste, diese vorwurfsvoll dreinschauenden Augen gehörten zu einer anderen Person, zu deren Gesichtzüge sich Julias Antlitz wie gehabt verwandelte; Gesichtszüge diesmal mit einem unheimlich star­renden, fast kam es ihm vor: drohen­den Blick. Jäh aufwachend, ließ er überstürzt den Motor an und fuhr aus dem Park­platz wieder hinaus auf die Autobahn. Erschrocken war er auch deswegen, weil in dem Traum noch andere Figuren aufgetaucht waren, schon zum wiederholten Male: auch sie graue Gespenster aus fernen Zeiten, die er längst in den genannten Abstell­kammern auf immer verschwunden glaubte. Sich zu wehren, die Tü­ren der Kam­mern zu verriegeln, nützte ihm nichts; die Geister schlüpften durch die Ritzen und Spalten der Türen, schon standen sie vor ihm und starrten ihn an mit rollenden Le­murenaugen. Wie oft hatte er sich gewünscht, es gäbe eine Kraft in ihm, einen Lethe-Quell, der dieses Abgelebte mit all seinen unguten, manchmal kreuzunglücklichen Erlebnissen wegwischen könnte, als wäre es nie gewesen! -

Nach dem Aufenthalt bei seiner alten Mutter in Walldorf, wo er allerdings nicht, wie Lisi versprochen, nur einen Tag, sondern mehrere Tage blieb, fuhr er, wie geplant, Richtung Fernwald, um seinem Cousin Klaus Kerner zu besu­chen. Schon von Wall­dorf aus hatte er den Zeitpunkt seines Eintreffens bei Klaus und Klara telefonisch angekündigt, um die beiden nicht unvorbereitet anzutreffen.

„Na endlich hast du dich einmal aufgerafft“, begrüßte ihn Klaus aufs Herz­lichste, „es wurde ja auch Zeit, dass du uns mal besuchst, nach so vielen Jahren! - Wie lange ha­ben wir uns eigentlich nicht gesehen? Na, zwei Jahre waren es bestimmt! - Du bleibst doch über Nacht?“

„Ich wollte eigentlich nur.....“

„Kommt nicht in Frage!“, sagte Klaus im Befehlston und blickte Elmar vorwurfsvoll an, als wollte er sagen: Willst du mich beleidigen? „Selbstverständlich übernachtest du bei uns, das Gästezimmer wartet schon. Klara bereitet für heute Abend schon ei­niges vor; sie wäre bestimmt stocksauer, wenn du....“ -

„Also gut, ich bleibe..........“

Elmar hatte bei dem freundlichen Ultimatum seines Cousins überhaupt keine andere Wahl; „aber morgen Vormittag spätestens muss ich weiterfahren!“

Klaus nickte zufrieden.

„Wie geht es zu Hause?“

„Danke, alles geht bestens! Lisi lässt euch herzlich grüßen.“

Dass alles bei ihm bestens gehe, stimmte natürlich nicht! Doch er wollte halt den An­schein erwecken, als wäre in seiner Familie alles in Ordnung! Lisis enervierendes Nörgeln fiel ihm wieder ein, desgleichen ihr Vorschlag kürz­lich, sie beide sollten doch besser in getrennten Schlafzimmern schlafen, schon aus gesundheitlichen Gründen. Elmar machte sich seit einiger Zeit große Sorgen um seine Ehe.

Nachdem er auch Klaus’ Ehefrau Klara und die anderen Kerners, die kleinen Zwil­lingssöhne Alfred und Andreas sowie die 14-jährige Tochter Kirsten begrüßt hatte, bezog er zunächst das Gästezimmer im Kernerschen Haus und richtete sich für eine Nacht häuslich ein.

Ob auch Julia schon da war? Irgendeinen Wagen mit dem Autokennzeichen von Wei­den / Niederbayern konnte er vor dem Haus seines Cousins nicht entdecken! Na, vielleicht kommt sie noch!?

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