Doch Lisis Nörgeln und unfreundlich verzogenes Gesicht vergaß er schnell, seine Gedanken richteten sich sofort wieder ganz auf den Besuch bei seinem Cousin und auf das Wiedersehen mit Julia, auf das er sich - geschehe es nur wirklich oder nur mutmaßlich - bereits richtig freute. Da er einige Tage von zu Hause wegblieb, wollte er seine Frau nicht zusätzlich verärgern, und um ihre erregte Stimmung zu besänftigen, sprach er jetzt in beruhigendem Ton zu ihr, indem er den Kofferdeckel sanft nach unten drückte und sich anschickte, ihn abzuschließen.
„Ich fahre dieses Jahr garantiert das letzte Mal nach Walldorf, Lisi, ich verspreche es dir, Ehrenwort! Allerdings dauert es diesmal etwas länger. Ich besuche noch meinen Cousin; bei meiner Mutter bleibe ich nur einen Tag!“
Lisi machte ein Gesicht, als wittere sie in diesem beschwichtigenden Ton und in den an sich akzeptablen Ankündigungen eine neuerliche Provokation. Doch das Funkeln ihrer Augen schwächte sich mit einem Male ab, ging in ein undefinierbares Glitzern über, was vielleicht besagen sollte, dass sie die Erklärungen ihres Mannes zwar nicht als annehmbar, aber doch als deeskalierend empfand. Schließlich bequemte sie sich zu einer Reaktion, welche die zwischen den Eheleuten aufgekommene Spannung tatsächlich milderte:
„Na, dann wünsche ich dir gute Fahrt!“, sagte sie in nicht mehr so schrillem Ton, „und grüß’ auch schön deinen Cousin von mir!“
„Werde ich tun!“, erwiderte Elmar, und indem er den Koffer wieder öffnete, packte er weiter seine Sachen hinein.
Da die Herbstferien an diesem Tag begannen, wollte er unmittelbar nach der Schule losfahren. Nachdem er alle seine Sachen mitsamt dem Koffer im Kofferraum des Wagens verstaut hatte, verabschiedete er sich von Lisi und den Kindern, von der Ersteren zwar nicht besonders gefühlsbetont, aber auch nicht übermäßig kühl, von den Kindern allerdings herzlich.
Dann stieg er in den Wagen und fuhr Richtung Schule. Sein Unterricht begann an diesem letzten Tag erst in der vierten Stunde, nach der sechsten könnte er dann endlich in die Ferien starten, was also wieder einmal bedeutete - nach Lisis Rechnung das fünfte oder sechste Mal - , dass er in den Taunus nach Walldorf fuhr, zu seiner Mutter, um die er sich kümmern musste, schon aus moralischen Gründen. Und das sollte seine Frau eigentlich doch bitte einsehen!
Unterwegs musste Elmar an die Bemerkung Lisis über den Kollegen Berg denken. Sie hatte recht, Studiendirektor Berg, der im Kollegium ziemlich den Ton angab – er war nicht nur Stellvertreter des Schulleiters Bredenbrink, sondern auch dessen Freund – war mit Vorsicht zu genießen. Immer musste Elmar aufpassen, dass er dem Kollegen nicht mit einer unbedachten Bemerkung auf die Füße trat, vor allem, wenn er mit ihm auf einer Soiree zusammentraf. Er stellte sich schon vor, was dann vielleicht passieren könnte, jetzt, wo er sich wie seine Kollegen Heberer und Reitmeier um eine A14-Stelle bewarb. Berg könnte den Direktor zum Beispiel veranlassen, einige ungünstige ’Schlenker’, sogenannte Signalwörter, in Elmars Lehrerbeurteilung unterzubringen, schon hätten Ludwig Heberer und Karl Friedrich Reitmeier im Bewerbungsverfahren die Nase vorn. Na ja, beruhigte er sich, die Lehrerprobe vor einer Klasse musste ja noch hinzukommen, im Beisein des Dezernenten Dr. Kuschmann, dem Leitenden Regierungsdirektor von der Schulaufsicht. Doch da fiel Elmar ein, dass Schulleiter Bredenbrink mit Kuschmann immer ein herzliches Einvernehmen an den Tag legte, wenn dieser mal im L-Gymnasium weilte; der Draht zwischen den beiden ’hohen Tieren’ schien also prächtig zu funktionieren. Auch wusste Elmar nicht, ob einer seiner Mitbewerber in der X-Partei war, die im Gemeindeparlament und im Lande das Sagen hatte. Es galt nicht nur am L-Gymnasium als ausgemacht, dass nur Parteibuchinhaber in die höheren Beförderungsstellen gehievt werden. Berg und Bredenbrink waren garantiert in der X-Partei, das stand fest. Unklar war nur, ob auch bei den A14-Stellen die Parteizugehörigkeit schon eine Rolle spielte. Wenn also Heberer oder Reitmeier oder gar beide das Parteibuch der X-Partei besaßen, dann Gute Nacht! Seine Beförderungsträume wären schon jetzt wie Seifenblasen an einem gezackten Eisengitter zerplatzt. Wie ihn dieses ganze politische Geschacher um Posten und Pöstchen anwiderte, nicht nur am L-Gymnasium! Aber auch der vom Schulleiter gerne gesehene Brauch, sich gegenseitig einzuladen und bei den Soireen dann miteinander freundlichen Umgang zu pflegen, obwohl man sich als Konkurrenten gegenseitig belauerte - Elmar kam das nicht nur heuchlerisch und spießig vor, er fand das, gerade heraus gesagt, grauenvoll! So war es nur zu verständlich, dass er keine Eile an den Tag legte, die genannten Kollegen samt Ehefrauen wieder einmal zu einem Gesellschaftsabend zu bitten.
Elmar hatte inzwischen das L.-Gymnasium erreicht. Die Fünf-Minutenpause würde gleich zu Ende sein, er musste sich also sputen, um pünktlich zum Unterrichtsbeginn im Klassenraum der 9b zu sein. Rückgabe der Deutscharbeit plus Besprechung und Berichtigung standen auf dem Programm. Wie im Fluge würde die Stunde vorübergehen. Dann, in der 5. Stunde, folgte Philosophie im Grundkurs der 13a. Das Thema lautete: Die unterschiedlichen Konzeptionen des „Willens“ bei Schopenhauer und Nietzsche, anhand von Auszügen aus „Die Welt als Wille und Vorstellung“ und „Jenseits von Gut und Böse“. Doch die Schüler werden jetzt, unmittelbar vor Ferienbeginn, nicht recht bei der Sache sein. Elmar stellte sich vor, wie er die Schüler nur mühsam zur Mitarbeit motivieren könnte; dabei hätte er gerne mit den Schülern sein Herzensanliegen diskutiert, und nicht zu knapp, ob Nietzsche mit seiner These Recht hat, der Mensch sei Wille zu Macht und nichts außerdem! - In der 6. Stunde musste er noch eine Deutschstunde in der 12c, mit dem Thema ’Sophokles: König Oedipus’, hinter sich bringen. Auch hier, zumal in der letzten Stunde vor Beginn der Ferien, wird die Mitarbeit der Klasse garantiert zu wünschen übrig lassen. Elmar malte sich schon aus, wie der Unterricht zäh und schleppend dem Ende entgegentaumelt. Dann endlich wird es schellen, und die Schüler, die schon ständig auf die Uhr geguckt haben, werden schnell ihre Sachen zusammenpacken und erleichtert und froher Stimmung die Klasse und die Schule verlassen, begleitet von den guten Wünschen ihres Lehrers, die sie aber wohl kaum oder nur nebenbei zu Kenntnis nehmen.
Und so geschah es auch, wie es sich Elmar vorgestellt: Auch er verließ erleichtert die Schule, nachdem er sich noch von einigen Kollegen, insbesondere von dem Schulleiter und dem Stellvertreter, auch von Heberer und Reitmeier, verabschiedet hatte. Rasch stieg er in seinen Wagen und fuhr zur Stadt hinaus, Richtung Bundesstraße B X, die zur Autobahn führte. Die Fahrt wird sich wie immer in die Länge ziehen, dachte er, zumal auf der vielbefahrenen B X. Allein bis er die Autobahn erreichte und das Gaspedal durchtreten konnte, wird fast eine Stunde vergehen, nicht nur weil er mehrere Dörfer durchqueren muss, auch wegen der zahlreiche Lastwagen, die sich gerade auf dieser Straße gerne tummeln.
Während der langweiligen Fahrt gingen Elmar alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Vor allem musste er an Studiendirektor Bergs forschenden Blick denken, als er sich von ihm im Lehrerzimmer verabschiedete. ’Na, Herr Kollege, Sie sind aber mit einer Einladung wieder mal dran!’, schien dieser Blick zu sagen. Sogleich stand ihm auch wieder die letzte Soiree bei Ludwig Heberer vor Augen. Lisi hatte recht, sie lag schon ziemlich lange zurück, die Heberers, eigentlich auch Berg hatten tatsächlich einigen Anlass, sich über Elmars Nachlässigkeit zu ärgern. Ludwig Heberer hatte damals nicht nur die Reitmeiers zu sich gebeten, auch Berg samt Ehefrau waren zugegen. Dazu hatte Heberer sogar noch den Schulleiter mit dessen entschieden jüngerer Ehefrau Kerstin eingeladen. Es war ein Abend, den Elmar in seinem Tagebuch als „völlig überflüssig“ kennzeichnete, und das Benehmen der anwesenden Kollegen bezeichnete er als „wichtigtuerisch“, „dünkelhaft“ und „hochnäsig“. Elmar erinnerte sich noch, wie er mit den beiden Kollegen, den Mitbewerbern um die A-14-Stelle, in einem Nebenzimmer zusammensaß und Reitmeier anfing, über eine Schülerin zu lästern. Der Schulleiter und der Studiendirektor hielten sich währenddessen im angrenzenden Speisezimmer auf, standen dort in einer Ecke und steckten die Köpfe zusammen. Die Ehefrauen saßen immer noch an dem Esstisch und plauderten miteinander.
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