Wut ist von Natur aus ein schmerzhafter Geisteszustand. Wann immer wir wütend werden, schwindet unser innerer Frieden augenblicklich dahin und unser Körper wird angespannt und fühlt sich unwohl. Wir sind derart ruhelos, dass es fast unmöglich ist einzuschlafen, und wenn wir dann doch ein wenig schlafen, ist unser Schlaf unruhig und nicht erholsam. Wir können nichts genießen, wenn wir wütend sind, und selbst unser Essen ist uns zuwider. Wut verwandelt sogar einen normalerweise anziehenden Menschen in einen hässlichen, rotgesichtigen Dämon. Wir fühlen uns immer elender und können unsere Gefühle nicht kontrollieren, ganz gleich wie sehr wir es versuchen.
Eine der schädlichsten Auswirkungen der Wut ist, dass sie uns unsere Vernunft und unseren gesunden Menschenverstand raubt. Um an jenen, die uns vermeintlich verletzt haben, Vergeltung zu üben, setzen wir uns großen persönlichen Gefahren aus, nur um einer kleinen Rache willen. Um Ungerechtigkeiten oder Beleidigungen heimzuzahlen, setzen wir unsere Arbeitsstelle, unsere Beziehungen und selbst das Wohl unserer Familie und Kinder aufs Spiel. Wenn wir wütend sind, verlieren wir jede Handlungsfreiheit und werden von unserer unbändigen Wut umhergetrieben. Diese blinde Wut richtet sich manchmal sogar gegen die, die wir lieben und gegen die, die es gut mit uns meinen. In einem Wutanfall vergessen wir die unermessliche Güte, die wir von unseren Freunden, unserer Familie und unseren spirituellen Lehrern erhalten haben, und schlagen oder töten vielleicht sogar diejenigen, die wir am meisten lieben. Es ist kein Wunder, dass bald alle, die einen gewohnheitsmäßig wütenden Menschen kennen, diesem aus dem Weg gehen. Dieses unglückliche Opfer seiner eigenen Launen treibt alle, die ihn einst liebten, zur Verzweiflung und sieht sich schließlich von allen verlassen.
Wut wirkt sich in Beziehungen besonders zerstörerisch aus. Wenn wir eng mit jemandem zusammenleben, prallen unsere Persönlichkeiten, Vorlieben, Interessen und die Art und Weise, Dinge anzupacken, oftmals aufeinander. Da wir sehr viel Zeit miteinander verbringen und die Fehler des anderen so gut kennen, sind wir besonders schnell kritisch und unserem Partner gegenüber gereizt und geben ihm oder ihr die Schuld daran, dass unser Leben unangenehm ist. Bemühen wir uns nicht fortwährend, diese Wut im Zaum zu halten, sobald sie entsteht, wird unsere Beziehung darunter leiden. Zwei Menschen mögen echte Liebe füreinander empfinden, doch wenn sie immer wieder wütend aufeinander werden, dann werden die Zeiten, in denen sie glücklich miteinander sind, seltener und kürzer. Schließlich wird es soweit kommen, dass der nächste Streit schon beginnt, bevor sie sich vom vorhergehenden erholt haben. So wie eine Blume vom Unkraut erstickt wird, kann Liebe unter solchen Umständen nicht überleben.
In einer engen Beziehung gibt es täglich mehrere Anlässe, wütend zu werden, deshalb müssen wir der Wut begegnen, sobald sie in unserem Geist entsteht, um zu verhindern, dass sich die negativen Gefühle anstauen. Wir räumen nach jeder Mahlzeit das Geschirr ab und warten damit nicht bis zum Ende des Monats, denn wir wollen weder in einem schmutzigen Haus wohnen noch vor einer solch riesigen, unerfreulichen Aufgabe stehen. In ähnlicher Weise müssen wir uns bemühen, diese Unordnung in unserem Geist aufzuräumen, sobald sie entsteht, denn wenn wir es zulassen, dass sie sich ausbreitet, wird es immer schwieriger sein, damit umzugehen und wir werden unsere Beziehung gefährden. Wir sollten daran denken, dass jede Gelegenheit uns zu ärgern auch eine Gelegenheit ist, Geduld zu üben. Eine Beziehung, in der es viel Reibung und Interessenskonflikte gibt, ist auch eine unvergleichliche Gelegenheit, unsere Selbstwertschätzung und unser Festhalten am Selbst, die die wirklichen Quellen all unserer Probleme sind, zu untergraben. Wenn wir die Anleitungen über Geduld, die in diesem Buch erklärt werden, umsetzen, können wir unsere Beziehungen in Gelegenheiten für spirituelles Wachstum umwandeln.
Es sind unsere Wut und unser Hass, die uns dazu bringen, Menschen in Feinde zu verwandeln. Normalerweise glauben wir, dass wir wütend werden, weil wir einen unangenehmen Menschen treffen, doch tatsächlich verwandelt die Wut, die bereits in uns ist, den Menschen, dem wir begegnen, in einen eingebildeten Feind. Jemand, der von seiner Wut beherrscht wird, lebt in einer paranoiden Welt, umgeben von selbsterschaffenen Feinden. Der falsche Glaube, dass alle ihn hassen, kann so überwältigend sein, dass er vielleicht sogar wahnsinnig wird, das Opfer seiner eigenen Verblendung.
Es kommt oft vor, dass jemand in einer Gruppe immer den anderen die Schuld gibt, dass etwas schiefgeht. Doch im Allgemeinen ist derjenige, der sich ständig beschwert, verantwortlich für jegliche Disharmonie, die entsteht. Es wird die Geschichte einer alten Frau erzählt, die zänkisch war und sich mit allen stritt. Sie war so unangenehm, dass sie schließlich aus ihrem Dorf verstoßen wurde. Als sie in ein anderes Dorf kam, fragten die Leute: »Warum hast du dein Zuhause verlassen?» Sie antwortete: «Alle im Dorf waren böse. Ich bin vor ihnen geflüchtet.» Die Dorfbewohner fanden es eigenartig, dass ein ganzes Dorf so böse sein sollte und kamen zu dem Schluss, dass es wohl eher an der Frau gelegen hatte. Da sie befürchteten, dass sie auch ihnen nur Ärger machen würde, verstießen auch sie die Frau aus ihrem Dorf.
Es ist sehr wichtig, die eigentliche Ursache unserer unglücklichen Gefühle zu identifizieren. Geben wir ständig anderen die Schuld für unsere Schwierigkeiten, so ist dies ein sicheres Zeichen dafür, dass unser eigener Geist immer noch viele Probleme und Fehler hat. Wären wir innerlich wirklich friedvoll und könnten unseren Geist beherrschen, könnten schwierige Menschen oder Umstände diesen Frieden nicht stören und wir wären nicht geneigt, andere zu beschuldigen oder sie als unseren Feind zu betrachten. Für jemanden, der seinen Geist gezähmt und jede Spur von Wut ausgelöscht hat, sind alle Wesen Freunde. Ein Bodhisattva zum Beispiel, dessen einzige Sorge das Wohl anderer ist, hat keine Feinde. Kaum jemand möchte einem schaden, der ein Freund der ganzen Welt ist, und selbst wenn jemand ihm oder ihr schaden würde, wäre er für den Bodhisattva kein Feind. Mit einem Geist, der stets geduldig ist, bliebe er ruhig und unbeschwert und seine Liebe und Achtung für den Angreifer blieben davon unberührt. So stark ist ein gut gezähmter Geist. Wollen wir wirklich alle Feinde loswerden, dann müssen wir nur unsere eigene Wut an den Wurzeln ausreißen.
Wir sollten nicht glauben, dass dieses Ziel unerreichbar ist. Viele Menschen konnten sich selbst vollständig von ihren körperlichen Krankheiten heilen, indem sie geeignete Methoden anwandten. In gleicher Weise können wir mit Sicherheit die innere Krankheit der Wut ausmerzen, und vielen spirituell Praktizierenden ist das in der Vergangenheit gelungen. Uns stehen alle Methoden zur Verfügung, mit denen wir uns von dieser lähmenden Verblendung befreien können. Sie haben ihre Wirksamkeit unter Beweis gestellt, wann immer Menschen sie aufrichtig in die Praxis umgesetzt haben, und es gibt keinen Grund, warum das bei uns anders sein sollte. Stellen wir uns eine Welt vor, in der wir alle unsere Wut besiegt hätten! Die Gefahr von Kriegen wäre gebannt, Armeen wären überflüssig und Soldaten müssten sich anderweitig nach Arbeit umschauen. Maschinengewehre, Panzer und Atombomben – Dinge, die nur für einen wütenden Geist nützlich sind – könnten vernichtet werden, denn alle Konflikte, angefangen von Kriegen zwischen Nationen bis hin zu Streitigkeiten zwischen einzelnen, hätten ein Ende. Selbst wenn uns die Hoffnung auf derart allumfassenden Frieden und Harmonie unrealistisch erscheinen sollte, so stellen wir uns doch einfach die Freiheit und den Frieden des Geistes vor, den jeder von uns genießen würde, sollte es gelingen, nur uns selbst vollkommen von diesem verzerrten und zerstörerischen Geist der Wut zu befreien.
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