Die drei höheren Schulungen sind die eigentliche Methode, dauerhafte Befreiung von den Leiden dieses und zahlloser zukünftiger Leben zu erlangen. Die folgende Analogie veranschaulicht dies: Wenn wir einen Baum mit einer Säge fällen, kann die Säge allein den Baum nicht fällen, ohne dass wir unsere Hände benutzen, die wiederum von unserem Körper abhängen. Schulung in höherer moralischer Disziplin ist wie unser Körper. Schulung in höherer Konzentration ist wie unsere Hände und Schulung in höherer Weisheit ist wie die Säge. Indem wir alle drei gemeinsam benutzen, können wir den giftigen Baum unserer Unwissenheit des Festhaltens am Selbst fällen, und automatisch werden alle anderen Verblendungen – seine Äste – und all unsere Leiden und Probleme – seine Früchte – vollständig enden. Dann haben wir die dauerhafte Beendigung der Leiden dieses und zukünftiger Leben erlangt – den höchsten, dauerhaften geistigen Frieden, der als «Nirvana», oder Befreiung, bekannt ist. Wir werden alle unsere menschlichen Probleme gelöst und den wirklichen Sinn unseres Lebens erfüllt haben.
Die vier edlen Wahrheiten können wir auf vielen unterschiedlichen Ebenen verstehen und üben. Direkt oder indirekt sind alle Dharma Übungen in der Praxis der vier edlen Wahrheiten enthalten. Durch die oben erwähnten Anleitungen verstehen wir im Allgemeinen, wie wir sie üben können. Wir sollten auch verstehen, wie wir sie hinsichtlich besonderer Leiden, Ursprünge, Beendigung und Pfade üben. Ein Beispiel ist das Leiden der Wut, ihr Ursprung (die Wut selbst), ihre Beendigung (die wahre Beendigung des Leidens der Wut) und der Pfad, die Praxis der Geduld. Dies wird in Teil Zweierklärt.
TEIL ZWEI
Die folgende Erklärung, wie wir unsere Wut überwinden, indem wir Geduld üben, beruht auf dem Leitfaden für die Lebensweise eines Bodhisattva, dem bekannten Gedicht des großen buddhistischen Meisters Shantideva. Obwohl es vor über tausend Jahren verfasst wurde, ist es eine der klarsten und kraftvollsten Erklärungen, die je zu diesem Thema geschrieben wurden und ist heute genauso relevant wie damals.
Shantideva sagt:
Es gibt kein größeres Übel als Wut
Und keine größere Tugend als Geduld.
Deshalb sollte ich auf verschiedenste Weise danach streben,
Mit der Praxis von Geduld vertraut zu werden.
Wut ist eine der häufigsten und zerstörerischsten Verblendungen und es vergeht fast kein Tag, an dem sie unseren Geist nicht plagt. Um das Problem der Wut zu lösen, müssen wir zuallererst die Wut in unserem Geist erkennen. Wir müssen uns eingestehen, wie sehr sie sowohl uns als auch anderen schadet, und die Vorteile schätzen, im Angesicht von Schwierigkeiten geduldig zu sein. Dann müssen wir im Alltag praktische Methoden anwenden, um unsere Wut zu verringern und letztendlich zu verhindern, dass sie überhaupt entsteht.
Was ist Wut? Wut ist ein verblendeter Geist, der sich auf ein belebtes oder unbelebtes Objekt richtet, es als abstoßend empfindet, seine schlechten Eigenschaften übertreibt und ihm schaden möchte. Wenn wir zum Beispiel auf unseren Partner oder unsere Partnerin wütend sind, erscheint er oder sie uns in diesem Augenblick als abstoßend oder unangenehm. Dann übertreiben wir seine schlechten Eigenschaften, indem wir uns nur auf die Seiten konzentrieren, die uns ärgern, und übersehen all seine guten Eigenschaften und Güte, bis wir schließlich das geistige Bild einer intrinsisch schlechten Person aufgebaut haben. Dann möchten wir sie auf irgendeine Weise verletzen, wahrscheinlich indem wir sie kritisieren oder verunglimpfen. Da Wut auf Übertreibung beruht, ist sie ein unrealistischer Geist: Die intrinsisch schlechte Person, oder das intrinsisch schlechte Ding, auf das sich die Wut konzentriert, existiert tatsächlich nicht. Zudem ist Wut, wie wir noch sehen werden, ein äußerst zerstörerischer Geist, der nicht den geringsten Nutzen hat. Haben wir die Natur und die Nachteile der Wut verstanden, müssen wir unseren Geist zu jeder Zeit wachsam beobachten, um sie zu erkennen, sobald sie entsteht.
Es gibt nichts, was zerstörerischer ist als Wut. Sie zerstört unseren Frieden und unser Glück in diesem Leben und treibt uns zu negativen Handlungen, die zu unsäglichem Leiden in zukünftigen Leben führen. Sie blockiert unseren spirituellen Fortschritt und hindert uns daran, jegliches spirituelle Ziel zu erreichen, das wir uns selbst gesetzt haben – angefangen von einer bloßen Verbesserung unseres Geistes bis hin zur vollen Erleuchtung. Das Gegenmittel zur Wut ist geduldiges Annehmen und wenn wir ernsthaft daran interessiert sind, auf dem spirituellen Pfad fortzuschreiten, gibt es keine wichtigere Praxis als diese.
In Leitfaden für die Lebensweise eines Bodhisattva sagt Shantideva, dass alle Verdienste, oder Glück, die wir durch tugendhafte Handlungen über tausende von Äonen in unserem Geist erschaffen haben, in einem Augenblick zerstört werden können, indem wir auf ein heiliges Wesen wie einen Bodhisattva wütend werden. Ein Bodhisattva ist jemand, der Bodhichitta hat, den spontanen Wunsch Erleuchtung zum Wohle aller Lebewesen zu erlangen. Da Bodhichitta eine innere Eigenschaft ist, ist es nicht einfach zu erkennen, wer ein Bodhisattva ist und wer nicht. Es ist gut möglich, dass ein berühmter spiritueller Lehrer kein Bodhisattva ist, während jemand, der einfach und unauffällig unter bedürftigen Menschen lebt, tatsächlich ein hochverwirklichtes Wesen ist. Wenn, wie Shantideva sagt, ein Augenblick der Wut gegen jemanden, der Bodhichitta entwickelt hat, Äonen von Tugend zerstören kann, dann ist es deshalb ratsam, auf niemanden wütend zu werden.
Wir können auf viele unterschiedliche Objekte wütend werden und wenn die Wut sich auf jemanden richtet, der hohe spirituelle Verwirklichungen hat, kann sie die Verdienste, die wir während tausender von Leben angesammelt haben, zerstören. In gleicher Weise wird die Zerstörung unserer Verdienste, oder unseres Glücks, grenzenlos sein, wenn wir sehr wütend auf jene werden, die uns große Güte erwiesen haben, sei es materieller oder spiritueller Art. Selbst wenn wir auf jemanden wütend werden, der uns gleichgestellt ist, zerstört dies das Glück, das wir während vieler früherer Leben angesammelt haben.
Nehmen wir an, wir erschaffen an einem Tag eine große Menge an Verdiensten, indem wir den Drei Juwelen – Buddha, Dharma und Sangha – umfangreiche Gaben darbringen oder vielen Menschen helfen. Wenn wir uns daran erinnern, unsere Verdienste der Erlangung der Erleuchtung und dem Wohle aller fühlenden Wesen zu widmen, dann sind diese Verdienste sicher und können nicht durch Wut zerstört werden. Widmen wir diese Verdienste jedoch nicht in angemessener Weise und werden am nächsten Tag auf jemanden wütend, wird die Tugend, die wir durch die Praxis am Tag davor angesammelt haben, kraftlos werden. Selbst wenn wir nur ein wenig wütend werden, kann dies das Heranreifen unseres tugendhaften Karmas hinauszögern. Deshalb fügt uns die Verblendung Wut ernstlichen Schaden zu. Ein alkoholisches Getränk hat das Potenzial, uns zu berauschen, doch wird es gekocht, dann ist dieses Potenzial zerstört. In gleicher Weise erschafft die Praxis der Tugend in unserem Geist das Potenzial Glück zu erfahren, Wut aber kann dieses Potenzial vollständig zerstören.
Die Zerstörung der Verdienste ist einer der unsichtbaren Fehler der Wut und deshalb etwas, das wir nur mit Vertrauen annehmen können. Doch es gibt viele sichtbare Fehler dieser Verblendung und die Notwendigkeit, uns in Geduld zu schulen, wird klarer, wenn wir uns diese offensichtlicheren Mängel einmal anschauen.
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