Ich konnte mir das nur schwer vorstellen, als Mathematikerin gehörte sie eindeutig zu den logisch denkenden Menschen. Aber Logik und die Dinge, die ihre Großmutter tun konnte, standen meiner Meinung nach im kompletten Gegensatz zueinander.
Nach einer kleinen Verschnaufpause und den Bemühungen jetzt möglichst cool zu bleiben fuhr ich fort.
„Und da gab es auch noch diesen Mann, ich glaube ein Amerikaner, der eine Glasscheibe zum Zerspringen brachte, indem er sich einfach darauf konzentrierte.
Von den unzähligen Geschichten, die mir meine Oma über sogenannte Hexen erzählte, die den Tod eines Menschen oder ähnliche Dinge vorhersagen konnten, ganz zu schweigen. Wenn man der Literatur glauben schenken darf, dann waren all diese Dinge und Erscheinungen früher verbreiteter als heute. Aber warum? War vielleicht unsere Realität zu früheren Zeitpunkten weniger verfestigt als heute? Heute gibt es für alles eine logische Erklärung. Und wenn dies einmal nicht der Fall ist, dann basteln wir uns eine. Denn Hexenverbrennungen sind inzwischen ziemlich out.“
Nach diesem letzten Satz herrschte einen Augenblick lang Schweigen. Ich versuchte aus den Blicken, die sich die anderen zuwarfen, eine Reaktion zu erkennen.
„Nun ungefähr so hatte uns Herr Birnbaum Ihre Ansichten oder sollte ich sagen Ihre Weltanschauung geschildert.“
Mir fiel auf, dass Schwarzenbeck, genauso wie ich, den Doktortitel wegließ. Schlagartig wurde mir bewusst, dass mir keiner der Anwesenden mit einem akademischen Titel vorgestellt worden war. Dabei musste mindestens Frau Kerner, die einen Lehrstuhl für Theologie hatte, ein Anrecht auf die Anrede „Frau Professor“ für sich beanspruchen können.
Ich hob mir diese Frage für einen späteren Zeitpunkt auf und wollte nun endlich mehr über diese Menschen erfahren. Immer noch quälte mich die Frage: ‚Warum bin ich hier? ‘
Nun brauchte anscheinend auch Schwarzenbeck einen Schluck Eistee, bevor er mit seinen Ausführungen begann. Und er nahm einen besonders großen Schluck davon.
„Wir alle hier im Raum haben uns in unserem bisherigen Leben ausschließlich mit der Realität befasst, die Sie soeben infrage gestellt haben. Und auch wir stellen vieles, was eigentlich immer so klar und eindeutig erschien, ebenfalls infrage. Früher hätte jeder von uns wahrscheinlich über das, was Sie sagten, geschmunzelt oder wäre einfach eingeschlafen. Aber wie Sie sehen, sind wir alle immer noch hellwach. Denn wir haben uns entschieden, den Sachen auf den Grund zu gehen. Darum sind wir hier. Und wir sind inzwischen recht gut ausgestattet. In unserer Bibliothek zum Beispiel werden Sie so ziemlich alles finden, was jemals über Telepathie, Telekinese und Parapsychologie geschrieben wurde. Ich meine keine Romane oder Science Fiktion, sondern wissenschaftliche Dokumentationen und Abhandlungen. Darunter auch Aufzeichnungen über Nina Kulagina. Wir verfügen sogar über einige Videoaufzeichnungen verschiedener Experimente, die in ihrer Gesamtheit sicherlich die umfangreichste Sammlung sein dürfte, die jemals zusammengetragen wurde. Ich wette, dass Sie diese Sammlung als echte Bereicherung würdigen werden.“
Das war mein Stichwort:
„Ich bin mir immer noch unsicher, warum Sie mich hierher gebracht haben und was Sie genau von mir wollen. Was interessiert Sie an Jemandem, der nicht mehr als eine normale Schule besucht hat und nur eine einfache Berufsausbildung genoss? Und genauso frage ich mich, warum ich mich in dieser unterirdischen Festung befinde, von der offensichtlich nicht ein Mensch da oben weiß, dass sie überhaupt existiert.“
Ich griff instinktiv in meine Tasche und holte meine Zigarettenschachtel heraus. Im letzten Moment hielt ich allerdings inne und lies sie wieder in meine Tasche zurück gleiten.
„Wir wissen, dass Sie das, was hier passiert, noch nicht so recht verstehen“ sagte Schwarzenbeck. „Ich würde Ihnen gerne erlauben, sich jetzt eine Zigarette anzuzünden. Aber leider haben wir in der kompletten Anlage ein unwiderrufliches Rauchverbot.“
Ich musste an den Lungenpieper denken, der uns vorhin in der Halle entgegen kam. Der arme Kerl sah genauso aus, wie jetzt wahrscheinlich auch ich.
Ja ich könnte jetzt gut eine Zigarette rauchen. Oder einen Cognac trinken. Aber zum einen hatte ich heute schon einen Cognac und zum anderen wäre es nicht gut jetzt meine Übersicht zu verlieren.
Ich muss ausgesehen haben wie ein Höhlenbewohner in Disney–World. Und um ehrlich zu sein, fühlte ich mich in diesem Augenblick auch so.
„Wenn Sie möchten, dann kann ich sie ins Parkhaus bringen lassen.“ sagte Birnbaum. „Dort können Sie dann ein bisschen Ihre Lunge ruinieren. Wenn Sie dann so weit sind, lassen Sie es uns wissen, und wir reden weiter. Okay?“
Ich nickte. Birnbaum verließ den Raum und kam mit einer jungen Frau zurück, die mich zum Fahrstuhl begleiten sollte, der mich wieder an die Oberfläche des Planeten bringen würde. (Ich sollte wirklich nicht so viele Science-Fiction-Filme sehen. Meine Wortwahl leidet bereits darunter.)
Ich folgte der jungen Frau in einem kurzen Abstand und hatte Schwierigkeiten, mich zu entscheiden, ob ich mich mehr für die mit Hightech gefüllte Halle oder doch für die bemerkenswerte Rückansicht meiner Führerin interessieren sollte. Ich entschied mich für das Zweite.
Wenn sich vorhin niemand für die kleine Szene interessierte, die ich mit Birnbaum veranstaltete, dann würde es auch niemanden interessieren, wenn ich meine Blicke auf diese herrlichen Rundungen richtete. Ich hätte an mir selbst ge-zweifelt, wenn ich es nicht getan hätte. Nicht zuletzt brauchte ich das Gefühl, immer noch ich selbst zu sein.
Im Fahrstuhl fragte mich die junge Frau, die sich als Yvonne vorstellte, ob ich neu hier wäre. Ich brauchte einen Moment, um zu antworten. Schließlich war ich zu sehr in meine Gedanken vertieft, um ihre Frage zu hören. (Um welche Gedanken es sich handelte, möchte ich nicht näher beschreiben, denn diese waren nicht unbedingt jugendfrei.)
„Bitte?“ Forderte ich sie auf ihre Frage zu wiederholen.
„Ich fragte, ob Sie neu in der Gruppe sind“ sagte sie mit einem Lächeln, als ob sie genau wusste, aus welchen Träumen sie mich gerade gerissen hatte. Ich merkte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. (Es gibt tatsächlich noch Situationen, in denen ich rot werde.)
„Oh. Ich weiß nicht“ stotterte ich.
„Sie wissen nicht?“ Fragte sie mit einem mitleidigen Lächeln.
„Ich weiß nicht, ob ich überhaupt in der Gruppe bin. Aber Sie haben recht. Ich bin heute zum ersten Mal hier. Kennen Sie denn jeden, der dazugehört? Es scheinen mir unheimlich viele zu sein.“
Sie lachte diesmal laut. „Da Sie offensichtlich nicht zum Führungsstab gehören, aber dennoch einen Anzug tragen, war es nicht schwer zu erraten.“
Na klar entweder man trägt einen Armani – Anzug oder gar keinen. Und Anzüge tragen offensichtlich nur Leute wie Birnbaum, die zum Führungsstab gehören, aber sich trotzdem noch in der Welt da draußen bewegen und dort ihre Rolle zu spielen haben.
Ich glaube in diesem Moment wurde mir klar, dass dort unten eine andere Welt existierte als oben. Dass diese Formulierung genau das beschrieb, worum es ging, sollte ich erst später erfahren.
Endlich stoppte der Fahrstuhl und wir stiegen aus. Yvonne schaltete das Licht im Parkhaus an, während ich bereits die erste Camel aus der Schachtel fingerte und sie hastig zwischen meine Lippen schob.
„Ich glaube die da unten sind ganz zufrieden, mich für ein paar Augenblicke losgeworden zu sein“ versuchte ich ein Gespräch zu beginnen.
„Warum? Haben Sie etwas gesagt, was die verärgert haben könnte?“ bekam ich als Reaktion zu hören.
„Ich weiß nicht. Aber sicherlich werden sie jetzt über mich reden. Was macht Ihr da unten eigentlich?“ Ich hoffte so endlich zu erfahren, was dort unten überhaupt vor sich ging.
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