Stefan Slupetzky
Im Netz des Lemming
Kriminalroman
Inhaltsverzeichnis
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Titel Stefan Slupetzky Im Netz des Lemming Kriminalroman
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Stefan Slupetzky
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Impressum
„Hast du den armen kleinen Kauz gesehen?“
„Wen meinst du?“ Klara wirft den Ärztemantel auf die Küchenbank und schraubt die silberne Kaffeemaschine auf. „Ich hab zwar einen Papagei und eine Eule unter meinen Patienten, aber keinen Kauz.“
Der Lemming lässt die Zeitung sinken. „Na, den neuen Freund vom Ben.“ Er deutet Richtung Tür. „Der Kleine ist heut nach der Schule mit zu uns gekommen.“
„Schön. Und warum ist er arm?“, fragt Klara, während sie Kaffeepulver in die Maschine füllt.
„Na, erstens wegen … Ach, du wirst schon sehen. Und zweitens wegen seines Namens. Wer tauft seinen Buben bitte Loll?“
„Bist du dir sicher? Loll?“
„Natürlich bin ich sicher. Jedenfalls hat er sich so genannt, und auch der Ben hat immer Loll zu ihm gesagt. Das ist mein Vater, Loll, schau her, Loll, gehen wir in mein Zimmer, Loll … Ich hab zuerst gedacht, es ist ein Spitzname, nur woher soll der kommen? Von Lolitus?“
Klaras Lachen ähnelt einem hellen Glockenklang. Sie wendet sich zum Lemming um und sieht ihn an. „Du glaubst das wirklich, oder?“
„Was?“
„Na, dass der Kleine Loll heißt.“
„Warum soll ich es nicht glauben?“
Klara neigt den Kopf zur Seite. „Manchmal könnt ich mich in dich verlieben, Poldi“, meint sie mit glänzenden Augen.
„Danke. Ganz besonders für den Konjunktiv. Sag, steh ich auf der Leitung oder hab ich was verpasst?“
„Nicht viel. Nur dreißig Jahre Internet, den Vormarsch der sozialen Medien und den untrennbar damit verbundenen Wortschatz unseres Sohnes.“
„Mama, dürfen wir was Süßes?“ Benjamin schiebt seinen strubbeligen Haarschopf durch die Küchentür, und hinter ihm erscheint ein weiterer Kopf, dessen Gesicht in schmerzhaftem Kontrast zu seinen engelsgleichen blondgelockten Haaren steht: unter der niedrigen, zurückweichenden Stirn zwei große blaue Augen, zwischen diesen eine kleine knubbelige Nase und darunter eine tiefe, dunkelrote Narbe in der Oberlippe – eine so genannte Hasenscharte. Beiderseits des Einschnitts wölben sich die Lippenflügel prall nach außen, so, als steckten große Erbsen oder kleine Weinbeeren darunter.
„Sicher dürft ihr etwas Süßes“, lächelt Klara. „Aber nur, wenn du mir vorher deinen Freund vorstellst. Ich bin Bens Mutter“, wendet sie sich an den Blondschopf. „Allerdings heiß ich nicht wie der Ben. Nicht Wallisch, sondern Breitner. Klara Breitner.“
„Lol“, antwortet Loll.
„Lol, Digga“, kichert Ben. „Gib Check, Digga!“
„Okay … Ich glaube, ihr wollt doch nichts Süßes.“ Klara zuckt die Achseln und stellt die Kaffeemaschine auf den Herd, während die Buben halb erstaunte, halb bestürzte Blicke wechseln.
„Wetehaa“, raunt Ben.
„Entschuldigung“, gibt Loll sich endlich einen Ruck. „Ich heiße Mario. Mario Rampersberg.“
Der Lemming ist bis jetzt mit offenem Mund und großen Augen dagesessen. Er hat eindeutig etwas verpasst. Als hätte man ihn in der Blüte seiner Jugend eingefroren und erst dreißig Jahre später wieder aufgetaut. Jetzt aber horcht er auf.
„So wie der Regisseur?“, fragt er. „Kurt Rampersberg? Bist du mit ihm verwandt?“
Der Kleine nickt. „Mein Vater.“
Nur mit Mühe kann der Lemming sich den Kommentar verkneifen, der ihm auf der Zunge liegt. Du armer kleiner Kauz, denkt er im Stillen …
Kurt Rampersberg war bis vor Kurzem einer jener Regisseure, deren Filme es nur selten in die Kinos schaffen und, wenn überhaupt, dann erst zu nachtschlafender Zeit im Fernsehen laufen. Seine Dokumentationen waren weder pornografisch noch politisch, sondern bestenfalls poetisch: stille, unscheinbare Kieselsteine unter all den schillernden Juwelen der Filmkunst. Aber eben Steine ohne das Gefunkel elitärer Wichtigtuerei. Sie trugen Titel wie Die Hütehüter – über den Verein zur Pflege der Tiroler Hutkultur oder Gemustert ausgemustert – wenn Soldaten Rentner werden. Cineasten älteren Semesters mag der Filmemacher ein Begriff gewesen sein, doch war er meilenweit von dem entfernt, was man als prominent bezeichnet. Dann aber, vor knapp zwei Jahren, ist die Tragödie passiert: Rampersbergs Frau – Marios Mutter – ist an einem Sommerabend auf dem Heimweg überfallen, mit Fausthieben traktiert und vergewaltigt worden. Tags darauf ist sie im Krankenhaus ihren Verletzungen erlegen.
Dass die Zeitungen sehr ausführlich über den Fall berichteten, lag weniger am medialen Sommerloch als an der Grausamkeit der Tat und an der Herkunft des Verbrechers: Milad H., ein junger Flüchtling aus Afghanistan, der über den Iran und die Türkei in die EU gekommen war.
Die Diskussion über die kulturelle Unvereinbarkeit von Islam und Christentum, von Orient und Okzident flammte von Neuem auf, und während immer lauter rigorose Maßnahmen zur Eindämmung des Flüchtlingsstroms gefordert wurden, führten nur noch wenige den Wert der Nächstenliebe und Barmherzigkeit ins Treffen. Wie auch immer man zu dieser Frage stehen mochte: Die brutale Tat bewegte alle Österreicher, alle trauerten mit Rampersberg, das ganze Land stand hinter ihm. Geteilt waren nur die Ansichten darüber, wie die Politik auf das Verbrechen reagieren sollte.
„O Em Dschi!“, stört Ben die Gedanken des Lemming. „Echt? Dein Vater ist ein Filmemacher?“
„Ja“, sagt Mario mit einem Achselzucken. Er wirkt nicht gerade stolz, das Thema scheint ihm Unbehagen zu bereiten. Fast erleichtert horcht er auf, als ein Geräusch aus seiner Hosentasche dringt: der Klang einer elektrischen Gitarre, die die ersten beiden Takte von Smoke on the Water intoniert.
„Was geht?“, fragt Ben.
Mario zieht ein Smartphone aus der Tasche. Er wischt einen nicht vorhandenen Schmutzfleck vom Display und lauscht ein paar Sekunden lang mit unverhohlener Unlust in den Hörer. „Jetzt schon?“, sagt er. „Ja, okay, wenn’s sein muss.“ Dann steckt er das Handy wieder weg. „Mein Dad. Ich muss jetzt heimfahren.“
„Junge! Chill dein Leben!“, zetert Ben. „Was ist jetzt mit was Süßem?“
„Wenn du magst, geb ich dir etwas mit“, meint Klara und zieht eine Lade auf. „Als Marschverpflegung.“
„Marschverpflegung“, brummt der Lemming. „So, als ob er nach … nach Russland müsste.“ Und weil ihm inzwischen dämmert, was der eine oder andere exotische Begriff der beiden Buben zu bedeuten hat, fügt er ein dezidiertes „Loll!“ hinzu.
„Voll episch!“, nickt Ben anerkennend. „Alles klar!“
„Wo wohnst du, Mario?“, fragt Klara, während sie dem Kleinen einen Schokoladenriegel hinhält.
„Gleich beim Zoo. In der Maxingstraße.“
„Echt? Da haben wir ja denselben Weg.“ Der Lemming schaut zur Küchenuhr. „Ich muss jetzt sowieso auch aufbrechen.“
„Mein Dad ist nämlich so was wie ein Cop“, fügt Ben hinzu. „Im Tiergarten.“
„Damit dort in der Nacht kein Elefant gestohlen wird“, grinst der Lemming.
Mario betrachtet ihn mit ernster Miene. „Lol“, sagt er dann leise.
Eine Viertelstunde später sitzen sie nebeneinander in der Straßenbahn, der fünfundfünfzigjährige ergraute Nachtwächter Leopold Wallisch und der elfjährige blonde Schüler Mario Rampersberg. Vor ihnen liegen zwölf Stationen: eine halbe Stunde Reisezeit, die mit Gesprächen überbrückt sein will, wenn sie sich nicht in jenem bleischweren, betretenen Schweigen festfahren soll, das man aus Aufzügen und Wartezimmern kennt. Im Wagen sitzen auch noch andere Fahrgäste, die meisten spielen mit ihren Smartphones, manche mustern Mario mit verstohlen-mitleidigen Blicken. Nur ein alter Mann mit einem grünen Trachtenhut starrt den Lemming vorwurfsvoll an. Wahrscheinlich hält er ihn für Marios Vater und gibt ihm die Schuld an dessen schlecht vernarbter Lippenspalte. Vielleicht ist er aber auch der Meinung, dass Missbildungen in Straßenbahnen nichts zu suchen haben – so wie übrigens auch Kinderlachen, Obdachlose, Ausländer und Schwule.
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