Doch der Kleine ist bereits gesprungen. Schon sackt er nach unten, bis der Klammergriff des Lemming ihn zum Stillstand kommen lässt. Jetzt hängt er stumm in seinen Jackenärmeln, acht Meter über den U-Bahngleisen, und der Lemming hakt sein rechtes Bein in eine Strebe des Geländers, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er wird nicht loslassen, wird seinen Griff nicht lockern. Nicht in diesem Leben.
„Hilf mir, Mario …“, ächzt er. „Halt dich vorne an den Rucksackgurten fest … Wir schaffen das, wir beide …“
„Lol“, sagt Mario und hebt die Arme.
Wie ein Windhauch klingt es, als er aus den Ärmeln schlüpft. Dann fällt er, und dem Windhauch folgt das dumpfe Poltern seines Kinderkörpers, der gegen die Windschutzscheibe einer einfahrenden U-Bahn schlägt.
Diese bleierne Müdigkeit. Als wäre man von Kopf bis Fuß in eine schwere Steppdecke gehüllt. Und trotzdem diese Kälte in den Gliedern. Vor dem weitläufigen Wolfsgehege flattern Fledermäuse durch die Dunkelheit: Es gibt hier auch ein Leben außerhalb der Käfige und Volieren, ein freies, wildes Leben.
Sternenklar spannt sich der Nachthimmel über den Zoo. Der Lemming sitzt auf einer der Besucherbänke, um die letzten Stunden noch einmal Revue passieren zu lassen. Fast fünf Stunden, um genau zu sein.
Am Anfang war es völlig leer in seinem Kopf. Er ist nur dagestanden, Marios Rucksack, Marios Jacke in den Händen, und hat über das Geländer auf den Gleiskörper gestarrt. Da unten war es ruhig, so ruhig, als hätte irgendein verrückter Gott die Uhren angehalten. Dann der erste eigentümliche Gedanke: Wenn die Zeit stillstehen kann, muss man sie doch auch zurückdrehen können. Und der zweite: Wie wird Ben diese Tragödie verkraften …
Nach gefühlten fünf Sekunden sind auch schon die Einsatzwägen eingetroffen. Unten auf den Gleisen weiße Rettungssanitäter, oben auf der Brücke blaue Polizisten. Doch die Sanitäter haben bald den dunkelgrauen Herren von der Bestattung Platz gemacht.
„Haben Sie was mitbekommen?“ Eine junge Polizistin hat den Lemming fragend angesehen. Auf sein stummes Nicken hin hat sie den Blick gesenkt und Marios Schultasche gemustert. „Ist das Ihre?“
Sie hat ihm den Ranzen abgenommen, Marios rote Jacke aber schlichtweg übersehen. Ihm selbst ist auch nicht in den Sinn gekommen, sie der Polizei zu übergeben, schließlich hatte er sich ja noch kurz davor geschworen, sie nicht loszulassen. Stunden später erst, bei seinem Eintreffen im Tiergarten, hat er die Jacke auf die Kleiderablage im Wächterhaus gehängt.
Ja, er ist arbeiten gegangen, hat sich – zwar verspätet, aber doch – zu seinem Nachtdienst in Schönbrunn gemeldet. Nur nicht heimfahren, nur nicht dahin, wo am späten Nachmittag alles begonnen hat. Stattdessen einfach nur allein sein mit sich und dem nachtschwarzen Zoo, den verschlafenen Urwald durchstreifen, der das Dickicht seiner wild mäandernden Gedanken widerspiegelt.
In der Finsternis des Wolfsgeheges glimmen gelbe Augenpaare auf, um nach Sekundenbruchteilen wieder zu verlöschen.
Marios Vater. Wer wird es ihm sagen? Wahrscheinlich hat ihn die Polizei schon informiert. Das Elend dieses Mannes ist nicht vorstellbar, so einen Schmerz kann doch kein Mensch aus Fleisch und Blut ertragen: Vor drei Jahren hat er auf die brutalste Art die Frau verloren, und jetzt … Wie soll man jemals wieder froh werden, wenn einem so etwas geschieht? Wie soll man überhaupt noch weiterleben, essen, schlafen, atmen können, Tag für Tag gefangen in der eigenen zerstörten Existenz?
Der Lemming denkt an Ben und Klara, und er stellt sich vor, das Schicksal Rampersbergs hätte ihn selbst ereilt. Die Vorstellung zerreißt ihn förmlich. Er schluchzt auf, schlägt sich die Hände vors Gesicht. Er beugt sich vor, den Kopf noch immer in den Händen, und weint stumm. Erst als die Tränen nach und nach versiegen, mischt sich eine Spur von Dankbarkeit in seine Trauer. Dankbarkeit dafür, dass er ein besseres Los gezogen hat als Marios Vater, Dankbarkeit für diese große Ungerechtigkeit des Schicksals. Und obwohl er sich für seine Regung schämt, so ist es dennoch eine Scham, mit der er besser leben kann als mit dem Tod seiner Familie.
Marios Tod wirft seinen Schatten trotzdem auch auf sie.
Wie soll ich es nur Ben erklären, überlegt der Lemming. Auf dem Herweg hat er Klara angerufen, lange haben sie gesprochen und am Schluss entschieden, Ben am nächsten Tag nicht in die Schule gehen zu lassen. Wenn der Lemming morgen heimkommt, werden sie versuchen, ihrem Sohn den Selbstmord seines Freundes schonend beizubringen.
Von Südwesten her ertönt mit einem Mal ein heiserer Ruf, gefolgt von einem harten Klappern. Dort steht die Voliere der Habichtskäuze, die einander so vor Eindringlingen warnen. Vielleicht streift ein Marder durch den Wald.
Warum hat Mario das getan? Der Lemming ruft sich die Straßenbahnfahrt in Erinnerung, Marios seltsames, teils Nähe suchendes, teils schnippisches Verhalten, seinen Hang zur Selbsterniedrigung. Hat ihn der Mord an seiner Mutter so gebrochen? Oder war sein angeknackstes Selbstbewusstsein wirklich nur die Folge seiner Oberlippenspalte?
Wieder dieses klappernde Geräusch. Dann, aus der Richtung des Regenwaldhauses, wo sich die Teiche des Freilandaquariums befinden, ein sonores Quaken: Es herrscht Laichzeit bei den Springfröschen.
Ein Quaken? Hat die Katastrophe denn nicht überhaupt erst mit dem unseligen Quaken von Marios Handy angefangen? Er hat eine Mitteilung bekommen, und in dieser Nachricht muss etwas gestanden sein, das ihn – im wahrsten Sinn des Wortes – aus der Bahn geworfen hat. Aber das Handy liegt jetzt wohl zerschmettert auf den Schwellen der U4.
Die Habichtskäuze spielen heute Nacht verrückt. Schon wieder dieser heisere Warnruf, dieses Schnabelklappern. Seufzend steht der Lemming auf; er kann den nachtwachenden Käuzen schließlich nicht die ganze Arbeit überlassen. Dienst ist Dienst.
Er steigt den Waldweg zum Tirolerhof bergan. Das Mondlicht bricht nur hin und wieder durch die Baumkronen; die Taschenlampe hat er wie so oft im Wächterhaus vergessen. Achtsam setzt er Schritt vor Schritt, nach einer Weile aber bleibt er stehen und lauscht. Tatsächlich: Er vernimmt ein leises Scharren, ein Scharren wie von Pfoten oder Hufen auf dem trockenen Boden. Ehe er weiß, wie ihm geschieht, kommt aus der Dunkelheit ein Schatten auf ihn zu, ein breiter, untersetzter Schatten, ja ein Schatten wie … von einem Bären.
Jetzt nur keinen Fehler machen: keine Drohgebärden, keine hastigen Bewegungen, vor allem keine Furcht zeigen, ganz ruhig bleiben und nicht davonlaufen. Der Angstschweiß bricht dem Lemming aus den Poren.
Immer näher kommt der Schatten, trottet direkt auf ihn zu. Vielleicht hat ihn das Tier ja überhaupt noch nicht bemerkt; erst vor zwei Monaten hat Klara ihm erzählt, dass Bären zwar einen vortrefflichen Geruchssinn haben, aber keine guten Augen. Noch acht Meter, noch sechs, dann nur noch vier … Der Lemming richtet sich zu seiner vollen Größe auf. Er breitet ruckartig die Arme aus und brüllt, so laut er kann: „Geh scheißen, Bär!“
Der Schatten zuckt so jäh zurück, dass er ins Straucheln kommt; mit einem heiseren Schrei stürzt er zu Boden.
Ein Moment der Stille. Dann eine erboste Männerstimme: „Sagen S’, Wallisch, sind Sie völlig wahnsinnig geworden? Um ein Haar hätt mich der Schlag getroffen!“ Fluchend rappelt sich der Schatten hoch, um sich den Staub von seinem Tweed-Sakko zu wischen.
„Chefinspektor?“, fragt der Lemming. „Chefinspektor Polivka?“
„Wer sonst? Sie werden doch wohl nicht wirklich einen Bären erwartet haben.“
„Nein, natürlich nicht. Mit Ihnen hab ich trotzdem nicht gerechnet. Wie sind Sie denn überhaupt ins Tiergartengelände reingekommen?“
Polivka schnaubt halb belustigt, halb gelangweilt auf. „Ich bin ein Krimineser, Wallisch. Schon vergessen?“
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