Stefan Heidenreich
Libri Cogitati
...die letzte Chance
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Inhaltsverzeichnis
Titel Stefan Heidenreich Libri Cogitati ...die letzte Chance Dieses ebook wurde erstellt bei
Irgendwann lange vor unserer Zeit
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
Epilog
Impressum neobooks
Irgendwann lange vor unserer Zeit
Die Mittagssonne hatte gerade ihren höchsten Stand erreicht, als er völlig erschöpft das Ufer erreichte. An diesem Tag hatte sie sich anscheinend vorgenommen gnadenlos all das zu verbrennen, was der Frühling erst wenige Monate zuvor neu erschaffen hatte.
Sogar der kleine Bach, der während seiner Jugend selbst in den schlimmsten Trockenperioden Wasser geführt hatte, lag nun trocken und ausgedorrt zu seinen Füßen.
Hier hatte er einst als Kind gespielt. Wie die anderen Jungs in seinem Alter hatte er flache Steine über das Wasser hüpfen lassen und mit den anderen ausgelassen gelacht. Sie waren damals Kinder, die wie die meisten anderen in ihrem Übermut bereit waren, die ganze Welt auszulachen. Kinder, die einfach nur spielen wollten. Wahrscheinlich war die Jugend mit ihrer Unbekümmertheit schon seit Anbeginn der Zeit der einzige Lebensabschnitt, in dem man sich seiner grenzenlosen Fantasie hingeben durfte.
Wie bereits viele Generationen vor ihm träumte er damals von all dem, was er eines Tages erleben würde. Er würde sicherlich die ganze Welt bereisen, als gebildeter Mann eines Tages hohes Ansehen genießen, und all die Sorgen seiner Vorfahren einfach hinter sich lassen.
Ja, davon träumte er als Knabe genau an diesem Bach.
Bilder aus glücklichen Tagen versuchten sich in seine Gedanken zu drängen. Es waren die Erinnerungen einer anderen Zeit. Einer Zeit, die nie mehr zurückkehren würde.
Mit Wehmut dachte er unter der Glut der Sonne an seine Familie zurück.
Francesco, sein jüngerer Bruder, Sophia, seine ältere Schwester, und auch die Eltern der drei kamen ihm in den Sinn. Wenn er dem Wunsch seines Vaters entsprochen hätte, so wäre er als der älteste männliche Nachkomme in dessen Fußstapfen getreten. Doch genau das wollte er damals nicht. Er wollte kein Bauer werden, der jedes Jahr die Naturgewalten fürchten und für eine gute Ernte beten müsste. All seine Vorfahren waren bereits dieses Standes. Und sie alle hatten mit den gleichen Problemen zu kämpfen.
Sogar sein Großvater, der das Gehöft in glücklicheren Zeiten einst führte, musste inzwischen selbst bei der Arbeit mit anpacken. Sicherlich hatte sich dieser alte Mann die ihm noch verbleibenden Jahre im Kreise seiner Familie anders vorgestellt.
In seinem letzten Sommer, den Domenico im Kreise seiner Familie erlebte, hatte eine Seuche die komplette Viehzucht dahingerafft. Ein Leben zwischen Hoffnung und Enttäuschung war seiner Zunft vorbestimmt und würde wahrscheinlich auch zu seinem Schicksal werden.
Nein, er war anders als seine Familie. Er wollte die Welt sehen und sie verstehen lernen. Darum verließ er als Jugendlicher den elterlichen Hof, auf den er niemals zurückkehren sollte.
Seine Abreise in dieser sternenklaren Nacht hatte er bereits seit Monaten geplant. Einen letzten Blick auf sein bisheriges Leben zurückwerfend und mit dem ganzen Mut eines Halbwüchsigen nahm er in Gedanken Abschied von seiner friedlich schlafenden Familie.
Seine Augen stets nach vorne gerichtet war der Weg ins Glück auch für ihn mit scheinbar unüberwindlichen Hindernissen gepflastert. Hindernisse, die er als 14-Jähriger unmöglich beiseite räumen konnte. Und so blieb ihm nichts außer seinen Hoffnungen auf ein kleines bisschen Glück im endlosen Labyrinth, das man Leben nennt.
Er stahl auf dem Fischmarkt Lebensmittel, die er später im Schatten eines Baumes hungrig verschlang. Er schlief in der Natur unter freiem Himmel.
Da er nie eine Schule besucht hatte, wurde er so zu einem Kind der Straße. Das Einzige, was man ihm während seiner Jugend je näherbringen konnte, war Gottesfurcht. Er würde niemals einem Menschen etwas wirklich Böses antun. Und wenn er einem anderen Menschen etwas wegnahm, dann handelte es sich ausschließlich um Dinge, die er für sein Überleben brauchte. Eines Tages, so schwor er sich, würde er alles, was er den Menschen gestohlen hatte, wieder zurückgeben. Doch dazu sollte es nie kommen.
Vielleicht hätte er damals sein Elternhaus nicht verlassen sollen.
Unter der sengenden Sonne, die ihn inzwischen Jahre später an diesem Nachmittag peinigte, spürte er zum ersten Mal so etwas wie Reue.
Er schaute auf die unverdaulichen Überreste einiger Fische, die anscheinend von hungrigen Vögeln zurückgelassen worden waren. Über seinem Kopf kreisten diese gierigen Aasfresser schon wieder auf der Suche nach der nächsten Beute. Doch all das kümmerte ihn nur wenig. Nichts konnte sein Interesse an diesem Tag wirklich wecken. Nichts war inzwischen wirklich wichtig genug, dass er sich auch nur einen Augenblick darauf konzentrieren konnte.
Selbst seine Kleidung, auf die er früher immer so großen Wert gelegt hatte, hing nur noch lose an seinem abgemagerten und von Durst gequälten Körper. An seiner schweißgebadeten Brust klebte das Gewand, und immer wieder verlor er seine Sandalen von den inzwischen blutig gelaufenen Füßen. Er hatte nur noch ein Ziel: so weit wie möglich zu laufen. Dorthin, wo sie ihn nicht mehr suchen würden.
Seine letzte Mahlzeit lag zwar erst drei Tage zurück, aber selbst das kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Sicherlich waren sie immer noch hinter ihm her. Es gab nichts, was sie daran hindern würde, ihn weiter zu verfolgen. Und was dann mit ihm geschehen würde, darüber gab es keinerlei Zweifel. Es würde unweigerlich sein Ende bedeuten. Sie würden keine Gnade walten lassen.
Dabei waren es doch dieselben Menschen, mit denen er seit nunmehr acht Jahren zusammenlebte. Er aß mit ihnen. Er trank mit ihnen. Ja, er betete sogar mit ihnen. Menschen, bei denen er hinter den stärksten Mauern, die er jemals gesehen hatte, seit damals lebte. Menschen, bei denen er sich anfangs so geborgen fühlte. Natürlich war er nicht desselben Standes wie sie. Er war ein einfacher Mensch vom Lande. Ohne jegliche Schulbildung.
Als er damals halb verhungert an ihre Tür geklopft hatte, waren sie es, die ihn wieder gesund pflegten.
Obgleich sie ihm alle intellektuell weit überlegen waren, hatten sie ihn seine Herkunft und das, was er war, nie fühlen lassen. Ihn nie wie etwas Niedriges behandelt. Schließlich waren sie selbst es auch, die ihn fast fünf Jahre zuvor in der Kunst des Schreibens und des Lesens unterrichtet hatten. Eine Fähigkeit, die ihm nun plötzlich zum Verhängnis werden sollte.
Denn eines Tages nutzte er das Erlernte und begann einfach zu schreiben. Nachts, wenn alles schlief, saß er einsam in der kleinen Kammer unter der Treppe, die er damals bewohnte. Allein und nur für sich schrieb er alles auf, was er erlebte.
Doch schon sehr bald wurde ihm klar, dass sie das, was er zu Papier brachte, niemals finden dürften.
Fast fünf Jahre lang schrieb er jeden Abend. Teilweise so viel, dass er kaum die Zeit dafür aufbrachte, den nötigen Schlaf für die Anstrengungen des nächsten Tages zu finden. Während der gesamten Zeit gab es nur vier Nächte, in denen er nicht schrieb. Das Halten der Feder verursachte in seiner Hand damals so große Schmerzen, dass er nicht einmal seinen täglichen Pflichten, die man ihm auferlegt hatte, nachkommen konnte. Doch sobald er wieder dazu in der Lage war, schrieb er weiter.
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