Ich beobachte Ewald Fischer wie er an diesem Samstag sein Einkaufswagerl durch die Regale schiebt. Ohne die Unterhosen zum Bestpreisangebot eines Blickes zu würdigen, rollt er durch die Gänge. Sein Blick schweift fahrig von der einen Seite zur anderen. Er wirkt nervös, greift sich andauernd mit den Fingern auf seine selbstgenähte Corona-Gesichtsmaske im Karo-Stoff mit kleinen Hirschen drauf. Im Wagerl hat Ewald eine Kiste Bier, einen Vorratspack Jausenwürste, drei Dosen "Serbische Bohnensuppe" und zwei Packungen Klopapier.
Ewald wirkt niedergeschlagen. Ganz anders als noch vor sechs Wochen, als ich ihn bei meinem Besuch beim Kirchenwirt sah. Damals spuckte er noch große Töne, führte wie immer das Wort am Stammtisch und bezeichnete sich in jedem dritten Satz als "gestandenen Patrioten, den nichts kleinkriegen kann".
Zu dieser Attitüde passt der Hirsch-Mundschutz denke ich und beginne zu grinsen. Dann schaue ich nochmals zu Fischer und sehe, wie eine Träne die Wange herunterkullert.
Was ist nun mit Ewald Fischer los? Obwohl ich ihn nicht wirklich mag, grüße ich ihn aus der Ferne. Er nickt kurz und wendet sich von mir ab.
Dann vergesse ich Fischer wieder, nehme meine Einkäufe und gehe zur Kasse.
Als ich den Diskounter verlassen habe und mit dem Wagerl zu meinem Auto rolle, sehe ich Fischer am Ende des Parkplatzes stehen. Er fühlt sich unbeobachtet, greift mit der rechten Hand in seine Jogginghose und beginnt Taschenbillard zu spielen. Als er an seinen Hoden herumknetet, erschrickt er. Ewald Fischer hat mich gesehen.
„Servus Hansi", meint er zu mir. „Ich weiß du magst mich nicht besonders. Aber ich weiß nicht, mit wem ich reden soll..."
„Aber Ewald. Du hast doch eh so viele Freunde. Im Wirtshaus, im Oldtimerclub oder im Patriotenverein. Du kennst doch Gott und die Welt."
„Was hilft mir das, Hansi. Seit die Gasthäuser zu sind, hat sich keine Sau mehr bei mir gemeldet. Ich bin alleine."
Er erzählt mir von der großen Oberflächlichkeit, die in seinem Leben eine dominante Rolle übernahm. Das Aufschneiden, die groß gespuckten Töne und der Alkohol haben ihm geholfen, sein einsames Leben zu ignorieren. Dann spricht er von seiner glücklichen Zeit vor seiner Scheidung. Fischer vermisst seine Frau und seine zwei Kinder, die er seit 16 Jahren nicht mehr sah.
„All das ist mir in den letzten Wochen bewußt geworden."
Ich bin wie vor dem Kopf gestoßen und weiß nicht, was ich sagen soll. Plötzlich aber meldet sich Fischer zu Wort.
„Magst ein Eili fürs Beili?", meint er zu mir und wachelt mit dem Karton mit bunten Eiern.
Mit einer Tube Estragon Senf bewaffnet, stehe ich am Marktplatz. Plötzlich sehe ich Harald Bauernfeind vor mir stehen. Zuletzt gesehen haben wir uns vor einem gefühlten Vierteljahrhundert, als wir mit dem Hauptschulabschlusszeugnis in der Hand den Weg in die weite Welt antraten. Für mich ging es nicht weit. Für Harald jedoch schon. Er machte eine Lehre in der Gastronomie, heuerte dann auf einen Kreuzfahrt-Dampfer an und kochte sich dreimal quer durch das Mittelmeer. Dann schwang er seine Kochlöffel in einem Haubenlokal an der Cote d`Azur und werkte bis vor wenigen Tagen sogar in Dubai, wo er pro Tag hunderte zu klein geratene Spezialitäten auf viel zu großen Tellern den Reichen und Schönen aus allen Herrenländern servierte.
„Ich bin froh, wieder hier zu sein“, fängt plötzlich Harald zu reden an, als er mich mit dem Senf in der Hand blöd in der Gegend rumschauen sieht. Sein Blick ist traurig. Er wirkt fahrig, abgekämpft.
„Hier im Mühlviertel habe ich genug Abstand zu diesem neureichen Pack in diesem depperten Dubai!“
Ich starre ihn mit großen Augen an. Was wird das jetzt? Was will mir dieser Starkoch auf Abwegen da mitteilen? Wie der sprichwörtliche Ölmann beginnt Harald zu reden. Er erzählt mir alles. Sein ganzes Leben und all seine Probleme serviert er mir jetzt wie auf dem Silbertablett. Von seinen Erlebnissen als Sous-Chef und Oberkoch, der in den feinsten Fresstempel der Welt hinter dem Herd stand. Er wirkt wütend.
„Diese Idioten glauben eh alles, wenn du es ihnen dementsprechend verkaufst. Schau dir doch diese Vögel der sogenannten Haute Volèe an. Seit Jahrhunderten fressen sie Spezialitäten, um sich vom Fußvolk abzuheben. Dass diese Feinspitze uns aber auf den Leim gingen, ist die Ironie dieser Geschichte. Ich gebe Dir nur ein Beispiel: Die Neureichen entdeckten nur deshalb die Austern, weil ihnen ein armer Fischer aus Schottland vor Jahrhunderten diese stinkenden Meeresfrüchte als Spezialität verkaufte. Oder nehmen wir den sauteuren Champagner. Nur weil einem Weinbauern in Frankreich sein Weißwein vergor, gab er dem Gesöff einfach den Namen Champagner. Das machte es neu und exklusiv. Das Business, das damit gemacht wird, ist gigantisch: Alleine am Opernball saufen die Leute tausende Liter und zahlen Abermillionen. Gewaltig. Da sage ich: Du bist, was du isst. Speisen und Spezialitäten sind Statussymbole. Wir Eingeweihten wissen, dass dahinter oft grenzenlose Dummheit steckt. Ich erinnere Dich nur an die 1000-jährigen Eier oder den schwedischen Gammelfisch. Seit Menschengedenken rächen sich die Ausgebeuteten so an der Dekadenz!"
Dass es dann und wann auch schon mal gefährlich werden kann, weiß auch Harald.
„Eine Fledermaus zu essen, kann zu einem Betriebsunfall mit ungeheuren Wirkungen führen!“
Ich zucke mit den Schultern, stecke die Senftube tief in den Hosensack und schwirre ab.
„Ich“, so ruft mir Harald nach, „habe aus der Krise gelernt. Im Herbst eröffne ich einen Würstelstand mit Burenhäutel, Senf und Kren!“
Morgen ist wieder Sonntag. Der Tag des Herren quasi. Damit ich auch in Zeiten von Corona und Co. diesen ehrwürdigen Wochentag feierlich begehen kann, bin ich am Weg zum Fleischhauer meines Vertrauens. Bevor ich die Tür öffne, sehe ich Pfarrer Pius Thorwartl in einer vom Wind geschützten Ecke stehen. In seiner linken Hand hält er eine Speckknacker, in der rechten ein resches Semmerl. Er beißt herzhaft in die Wurst und nickt mir grüßend zu. Ich erwiderte Thorwartls Gruß und hebe dabei meine linke Hand.
Eigentlich habe ich keine Zeit für Smalltalk. Ich will so schnell wie möglich mein Schnitzel für den morgigen Mittagstisch kaufen. Da bemerke ich die Sorgenfalten in Thorwartls Gesicht. Kein Wunder, denke ich mir. Seit ein paar Wochen ist Thorwartl wegen der Corona-Ausgangsbeschränkungen arbeitslos. Alle Messen sind abgesagt, das Weihwasser potentiell kontaminiert und die Kirchen in diesem Land auch an Sonntagen wie verwaist. Die von Fleischhauer Erich Eder händisch zubereitete Knackwurst schmeckt ihm offenbar. Pius Thorwartl macht einen zufriedenen Eindruck. Er sinniert und surft im Kalender seines Smartphones herum.
Ich bremse meinen Schwung und beschließe, mit dem Pfarrer doch ein paar Worte zu wechseln. Umgekehrte Seelsorge sozusagen. Er erzählt mir: Anfang Juni will Thorwartl wieder die Handys, Laptops und Tablets seiner Schäfchen segnen. Ob sich das ausgehen wird? Gesegnete Smartphones? Was sich für Viele skurril anhört, ist für Pius Thorwartl nur konsequent. Denn: Auch ein Priester muss mit der Zeit gehen und Dinge des täglichen Lebens mit göttlichem Segen ausstatten. Da gibt es schon schlimmere Dinge, erklärt mir Thorwartl. Kollegen, die umweltschädliche Dinge segnen, wie Monsignore Josefus aus Bad Hansberg. Erst im August segnete er bei Bier und Blasmusik die 150 luftverpestenden Motorräder des örtlichen Bikerclubs - kurz vor ihrer Ausfahrt durch die beinahe unberührte Natur. Eine Woche später weihte er dann eine Chemiefabrik ein. Seine Logik: Alles, was dieser Josefus mit Weihwasser betreufelt, wird Teil unserer Heimat.
Dann aber verfinstert sich Thorwartls Gesichtsausdruck.
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