Dass DJ Wolfgang damit wie ein Italo-Barde dieser Dekade aussah, ist vielleicht auch der Grund gewesen, warum ihn der Almrausch-Geschäftsführer vor mehr als acht Jahren engagierte und ihn als auflegende Cashcow gehaltstechnisch auf Rosen bettete. DJ Wolfgang dankte es ihm mit dem Auflegen sogenannter Befruchtungswalzer, die gerade zu späterer Stunde zu vermehrter Hormon- und Personenfrequenz auf der Tanzfläche sorgten. Und: Weil gerade die Frauen reiferen Alters auf diese Art von Musik ansprangen, ist auch der Hauptgrund warum das Tanzcafé Almrausch „Hausfrauenstrich“ genannt wurde. Ein Faktum, das auch verheiratete Männer wie dem Lois oder eben Oberngruber in dieses Tanzcafè gehen ließ. „Aus den Boxen nur Schlager, aus dem Zapfhahn nur Bier was ist billig - All das macht die Frauen willig“, lautete ihr Motivationsspruch - auch gestern Abend. Dass aber trotz der von DJ Wolfgang routiniert eingesetzten Hosentürlreiber die im Almrausch anwesenden Damen nicht auf Lois` und Oberngrubers eingesetzten Charme ansprangen, hatte eine fatale Wirkung. Die Blicke in die fremden Dekolletees machten Oberngruber geil. Der Alkohol tat seine Wirkung und ein schnelles Abenteuer wäre für ihn der Gipfel der Gefühle gewesen.
Weil die frauentechnische Disco-Ausbeute statistisch gegen Null ging, zückte Oberngruber, als er zu Hause ankam, heimlich sein Smartphone und surfte auf eine Erotik-Chat-Seite. Die Kontaktaufnahme mit „Latexlady 69“ war dann auch gleich vielversprechend. Die Annäherungsversuche mit anfänglichem Dirty-Talk gipfelten schließlich im Austausch von Nacktfotos. Ein Moment, in dem Oberngruber endlich mal Spontaneität zeigte und seinen leicht angereiften Adoniskörper mit einem Penis-Selfie in Szene setzte. Ohne Foto-Filter, ganz pur und standhaft. Mit diesen Worten ließ er das in seiner sexuellen Erregung fabrizierte Nacktbild an die von „Latexlady 69“ übermittelte Handynmmer durch das Internet wandern. Das Herz schlug bei dieser cybersexuellen Entjungferung bis zu seinem Hals und die pulsierenden Schläge schnitten ihm die Atemluft ab. Dem Höhepunkt folgten Angst und Ungewissheit, wohin er sein Nacktfoto schickte. Als er als Antwort auf sein Whatsapp drei Bilder einer haarigen Vagina erhielt, dachte Oberngruber dass diese schnelle Nummer doch glücklich endete. Oberngruber masturbierte noch schnell und legte sich dann mit einem befriedigten Grinser ins Ehebett. Seine Ehefrau Hilde schlief bereits tief und fest. Sie bemerkt wie immer nichts, dachte Oberngruber noch kurz vor seinem wegnippeln. Doch es kam anders.
Exakt um 9.30 Uhr, kurz nachdem er aus seinem alkoholbedingten Schlafzimmerkoma erwachte, klingelte sein Smartphone. Whatsapp eingetroffen. Oberngruber rülpste kurz, richtete sich in seinem Bett auf und starrte auf das Display. Zuerst dachte er noch an eine erotische Liebesnachricht, als er die Absendernummer las. Dann aber verfärbte sich sein Teint kreidebleich. Die Müdigkeit in den Knochen war wie weggefegt und der sonntägliche Kater wich einer unbändigen Schrecksekunde, die das Blut in seinen Adern gefrieren ließ. Oberngrubers Morgenlatte fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Sie implodierte und das so entstandene Vakuum in seiner Bauchgegend stimulierte einen unkontollierbaren Brechreiz.
„Wenn du bis Mittwoch nicht 20.000 Euro auf meine Konto überwiesen hast, werde ich dein Foto mit kurzem Pimmel auf Youporn veröffentlichen, dazu einen Link auf deine Facebookprofil setzen. Ich habe volle Kontrolle über dein Gerät und weiß, wo du herumsurfst. Nun, ich glaube das ist ein fairer Preis für unser kleines Geheimnis. Wenn ich das Geld nicht bis Mittwoch habe, sende ich das Foto an alle deine Mailkontakte. Opfa. Perverse Sau!“
Oberngruber atmete kurz aus und ein. Dann schaltete er sein Handy aus und versteckte das Mobiltelefon in seinem Nachtkästchen. Er dachte an die fünf Phasen der Krise, über die er vorgestern in einem Magazin las. Er war mitten in Phase Eins - der Verdrängung. Mühsam wuchtete er seinen Körper aus dem Ehebett, zog sich sein Ruderleiberl an und streifte sich schnell eine Trainingshose aus Ballonseide über seine Beine. Er mochte diese Hosen in seiner Freizeit. Der Gummizug schmiegte sich angenehm über seine Problemzonen an Hüften und Wampe und die weite Passform ergoss sich wie ein weicher Stoff-Fluss über seine haarigen, im Verhältnis zum Bauch, dünnen Beine. Er versuchte den angebrochenen Sonntag so zu leben, als hätte es dieses Whatsapp nie gegeben. Nach einem schnellen Frühstück verschwand er, ohne mit Frau und Kinder zu reden, bei der Haustüre hinaus. Er stieg in sein Auto und fuhr zum rituellen Frühschoppen beim Kirchenwirt am Bad Hansberger Ortsplatz. Aber auch am Stammtisch wollte und wollte sich das ansonsten so wohlige Sonntagsfeeling nicht einstellen. Auch nach dem zweiten Reparaturseiterl konnte Oberngruber nur schwer über die Herrenwitze lachen, die an Tagen wie diesen für das schlüpfrige Flair sorgten. Keine Chance. Auch die Erzählungen von Freund Lois, der vor versammelter Stammtischrunde den gestrigen Abend Revue passieren ließ und dabei log, dass sich die Balken bogen, sorgten für keinerlei Regung in Oberngrubers Gesicht.
„Was ist Ossi? Hat dich deine Alte hinausgeschmissen“, wollte Lois von ihm hören. „Du schaust drein wie ein Autobus.“
Oberngruber war zum Weinen zumute. Er wurde erpresst - von einer Frau. Latexlady 69 hatte ihn, den großen Frauenhelden und Vorzeigemacho an den Eiern. Oberngruber zahlte und machte sich auf den Weg. Zuhause angekommen lud er seine Tauben ins Auto und kutschierte mit ihnen auf und davon.
Das hätte er sich nie gedacht, dass er Opfer eines perfiden, niederträchtigen und sexuell anrüchigen Cybermobbings wurde. Oswald Oberngruber, Vizeabteilungsleiter der Bundesländerversicherung, Chef der Kleintierzüchter und honoriges Mitglied des Kameradschaftsbundes und Pfarrgemeinderates. Er, der Saubermann von Bad Hansberg, die moralische Säule der Gesellschaft und Ehrenmitglied der Gebetsliga für christliche Werte steckte bis zum Hals im Sündenpfuhl?
„Ein Wahnsinn. Wenn das herauskommt bin ich erledigt“, dachte er sich. Oberngrubers Kunden bei der Versicherung, der Gemeinderat, die Freunde, die Ehefrau, die Kinder. Alle! Alle werden sein Schwanz-Porträt in ihren Mail-Posteingängen zu sehen bekommen. Es gab nur einen Ausweg. Er musste mit eigenen Kräften wieder aus dieser Krise herauskommen.
Aber wie? Obernguber konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er saß einfach im Auto und machte einen erschöpften Eindruck - sechs Stunden nach der Drohung von „Latexlady 69“. Die schweißnasse Hose klebte am lederbezogenen Fahrersitz seines Autos. Oberngruber drehte am Sendersuchlauf seines Autoradios weiter und lauschte gedankenverloren irgendwelchen deutschsprachigen Hiphoppern, die irgendwas von Ehre, Brüsten und Swag ins Mikro röhrten. Dem Versicherungsfachmann wurde in diesen Momenten klar. Er war am Arsch.
Plötzlich überkam es ihm: Oberngruber raufte sein schütteres Haar und stieß einen ins Mark fahrenden Schrei aus. Er trommelte mit beiden Fäusten auf das Armaturenbrett und brach zusammen. Seine Augen füllten sich mit Tränen und er begann immer lauter zu wimmern.
Die zweite Krisenphase erfasste ihn. Wut und Zorn ließen Oberngrubers Körper beben. Die Erschöpfung trat nach wenigen Minuten ein. Oberngruber schluchzte. Er war verzweifelt, müde und wusste nicht mehr, was er machen sollte.
Plötzlich läutete sein Handy. Es war Hilde, seine Ehefrau. Damit diese keinen Verdacht schöpfte, riss er sich wieder zusammen und nahm das Gespräch an.
„Hallo Liebling.“
„Ossi. Wo bist? Die Jause steht am Tisch. Wenn du heute nicht wieder auf der Soff schlafen willst, bist du in zehn Minuten da, gell!“
„Ja sicher, Liebling. Ich muss nur noch schnell …“
„… ich kann es mir denken. Das Bier austrinken. Ossi! Ich verlange, dass du sofort …“
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