Natürlich hatte Sally damals Maggie irritiert zurückgefragt, ob Thomas das nicht längst wisse, dass er Ford so ähnlich sah, weil ihn doch bestimmt schon viele Leute darauf angesprochen hätten. Vielleicht wäre das ja auch der Grund für die permanent schlechte Laune des Richters. Darauf hatte Maggie geantwortet, dass Thomas schon ein Ekelpaket gewesen sei, bevor Ford berühmt wurde und dass jedermann in New York wusste, dass es sich bei diesem eigentlich sehr charmant aussehenden Mann nicht um den Schauspieler, sondern um den Juristen handelte. Und außerdem hatte es sich schnell herumgesprochen, welche ziemlich skurrilen Ansichten Thomas hatte. Weil er aber gnadenlos gegen Leute vorging, die ihm in die Quere kamen, wollte es sich niemand mit ihm verscherzen oder ihn unnötig provozieren. Wer wusste schon, wann man es mal persönlich mit Dr. Gnadenlos zu tun bekam. Natürlich hatten nur die New Yorker Kenntnis von dieser Abneigung des Juristen gegen Schauspieler. Fremde oder Touristen hatten ihn vielleicht mal auf seine Ähnlichkeit mit Ford angesprochen oder um ein Autogramm gebeten. Offenbar war das aber nicht sonderlich oft vorgekommen, und Thomas hatte die Leute dann angesehen, als seien sie geisteskrank und hatte sie angeschnauzt, was das denn würde und dass sie ihn gefälligst in Ruhe lassen sollten. Sally stammte allerdings aus Chicago, Fords Geburtsstadt, von daher hätte sie nie damit gerechnet, dass ihr neuer Chef erstens Schauspieler verachtete und zweitens überhaupt nicht wusste, dass er ausgerechnet diesem sehr prominenten derart ähnlich sah. Und weil Thomas nie ins Kino ging und so gut wie nie Filme im Fernsehen sah - das war in seinen Augen Zeitverschwendung und Volksverdummung - konnte er auch selbst keine Kenntnis darüber erlangen. Was seine Familie anging, so hütete die sich, es ihm zu erzählen, weil er auch zuhause oft launisch und reizbar war, und man musste ja nicht unnötig ins Wespennest stechen. Und in gewisser Weise konnte auch Harrison Ford sich glücklich schätzen, dass Thomas nicht wusste, wie ähnlich er und der Richter sich sahen. Denn der Jurist hätte garantiert Mittel und Wege gefunden, um den Schauspieler in irgendeiner Weise dafür zu bestrafen. Das jedenfalls behaupteten die Leute im Gericht, allerdings meinten sie es ironisch, weil eine solche Ähnlichkeit ja nicht unter Strafe stand. Ob diese Behauptung aber doch gar nicht mal so abwegig war, wäre noch die Frage gewesen.
Sally hatte nach ihrer Scheidung ein neues Leben anfangen wollen und war von der Westküste nach New York gekommen. Sie mietete sich zunächst nur eine kleine Wohnung, weil sie ja nicht wusste, ob sie nach der Probezeit übernommen werden würde. Als sie nun gerade ihren unbefristeten Arbeitsvertrag bekam, war Maggies Mann verunglückt. Deshalb kam sie öfter bei der Kollegin vorbei und übernachtete sogar manchmal bei ihr, weil Maggie sagte, das würde ihr seelisch sehr helfen. Daraus entwickelte sich ein innige Freundschaft, und schließlich bot Maggie ihrer Kollegin an, doch zu ihr in ihr Haus zu ziehen, jetzt, wo sie eh allein dort wäre.
Gegen 14.00 Uhr erschien nun Philip im Vorzimmer seines Kollegen. Die beiden Sekretärinnen waren in ihre Arbeit vertieft und zuckten deshalb ein bisschen zusammen, als er sie ansprach, denn sie hatten ihn gar nicht ins Zimmer kommen hören.
“Hallo Ladys, ist er schon da?”, erkundigte sich Philip und deutete mit dem Kopf auf die geschlossene Tür.
“Nein, er lässt sich entschuldigen, weil das Geschäftsessen noch etwas länger dauert als geplant”, erklärte Sally, “wahrscheinlich wird er gegen 14.15 Uhr da sein.”
“Und”, horchte Philip nach, “haben Sie beide es geschafft, ihre Tatwaffen verschwinden zu lassen, ehe er ins Zimmer kam?”
“Ja”, befand Maggie, “nur leider geht bei jedem Verbrechen irgendeine Kleinigkeit schief, und die wird einem dann zum Verhängnis.”
Also berichtete Maggie dem Richter, wie ihr Chef Geschirr und Thermoskanne doch noch entdeckt hatte.
“Na ja”, meinte Philip seufzend, “aber immerhin leben Sie beide ja noch.”
“Falsch”, entgegnete Sally mit stoischer Ruhe, “wir sind inzwischen Zombies, nur noch ein Schatten unserer selbst. Und es kann jetzt verdammt eng für uns werden. Wer weiß, welche Kleinigkeit der Tropfen sein kann, der das Fass zum Überlaufen bringt. Dann sind wir draußen.”
“Na ja, ganz so einfach wird er Sie nicht feuern”, widersprach Philip, “schon aus reinem Eigennutz nicht. Schließlich müsste er dann neue Sekretärinnen einarbeiten. Das ist sehr mühsam und zeitintensiv.”
“Korrekt”, knurrte Sally, “aber wie wär’s denn mal mit Konventionalstrafe, Gehaltskürzung oder kostenlos Mehrarbeit? Bestimmt fällt ihm dann irgendwas Passendes ein. Ach Philip, warum haben wir Sie nicht als Chef?!”
“Nun, das könnte sich schon bald ergeben. Dr. McNamara und ich haben heute Nachmittag einen Termin auf einer Cocktailparty beim Bürgermeister von New York. Sie beide wissen ja, wie sehr unser Herr Richter solche Veranstaltungen hasst. Aber diese war ihm sehr wichtig, weil er sich bei einigen Leuten in Erinnerung bringen will, die ein Wörtchen bei der Berufung der zu besetzenden Stelle des Obersten Bundesrichters mitzureden haben.”
“Sie meinen, er will den Herrschaften nur noch mal klarmachen, dass natürlich er der richtige Kandidat für den Posten ist?”, horchte Sally entzückt nach.
“Genau.”
Maggie und Sally waren hocherfreut.
“Das ist doch mal ein ganz unvermutetes Geburtstagsgeschenk von Dr. Gnadenlos”, meinte Maggie und grinste Sally an.
“Und das bedeutet, dass Sie seinen Posten bekommen, wenn er weggelobt wird?”, wollte Sally wissen.
“Ja, er will sich dafür stark machen.”
“Mit anderen Worten... er hat es schon beschlossen, und was Dr. Gnadenlos beschlossen hat, das geschieht, weil er es beschlossen hat”, kommentierte Maggie Philips Aussage.
Philip musste grinsen.
“Tja, dann darf er die Gerechtigkeit auf ewig im Namen tragen, weil er den Job auf Lebenszeit innehat”, seufzte Maggie, “Justice Dr. Thomas McNamara, Oberster Bundesrichter der Vereinigten Staaten von Amerika. Wie das klingt.”
“Und vor allem ist seine Gerechtigkeit dann frei von Sünde”, befand Sally spitz.
“Sorry, aber ich kann dir da nicht folgen”, kommentierte Maggie die Bemerkung ihrer Kollegin.
“Was meinen Sie denn damit?! Gerechtigkeit ist nie sündhaft, das ist doch völlig paradox!”, befand Philip irritiert.
“Natürlich war meine Bemerkung ironisch gemeint”, entgegnete Sally fast schon brüskiert, “was ich aber meine, ist Folgendes: In seiner jetzigen Position ist er ‘Acting Justice’, und wir wissen, dass acting auch schauspielern bedeutet, wobei das in unserem Fall ja nicht so ist. Wie Dr. Gnadenlos über Schauspieler denkt, darüber brauchen wir nicht zu reden. Eigentlich ist es fast unglaublich, dass ein Mann, der einem Schauspieler derart ähnlich sieht, mehr oder weniger dieselbe Berufszeichnung hat. Wenn unser Dr. McNamara das wüsste, würde Harrison Ford in echte Gefahr geraten, weil es bei Dr. Gnadenlos bestimmt zu irgendeiner Kurzschlusshandlung kommen würde. Natürlich würde er ihn nicht umbringen, aber ich bin mir nicht so sicher, ob er sich nicht was einfallen ließe, um Ford an den Kragen gehen zu können. Vielleicht ist das ein bisschen übertrieben von mir, aber manchmal habe ich echt den Eindruck, dass er den Verstand verloren hat. Zumindest aber beschleicht mich das Gefühl, dass er durchaus bereit wäre, seine Kompetenzen zu überschreiten, wenn er damit irgendwelche Schwerbrecher ins Gefängnis bringen könnte. Von daher wäre er besser Staatsanwalt geworden als Richter.”
“Sally, Sie haben Ihren Beruf verfehlt”, befand Philip ehrlich beeindruckt, “Sie hätten Kabarettistin werden sollen. Allerdings finde ich Ihre Behauptung, Thomas würde seine Kompetenzen überschreiten, wenn er die Chance hätte, Schwerverbrecher zu schnappen, sehr gewagt, um es mal vorsichtig auszudrücken.”
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