“Hier, Sir”, entgegnete Maggie und reichte ihm einen Stapel Briefe, “und ein Anruf kam für Sie heute Morgen rein, kurz nachdem sie zur Verhandlung gegangen sind. Irgendjemand aus Washington. Ein Mr. Smith. Der kam mir ein bisschen komisch vor, weil er mir partout nicht sagen wollte, worum es sich handelte und er nur mit Ihnen sprechen wollte. Er hat auch keine Nummer hinterlassen, damit Sie zurückrufen können und...”
“Wann will er wieder anrufen?”, unterbrach Thomas sie hastig.
“Gar nicht. Er sagte nur, Sie wüssten schon, worum es sich handelte, deshalb müsste er mir nicht alles erklären.”
Maggie sah ihren Chef ein wenig unsicher an.
“Na ja, schon gut”, erwiderte Thomas nicht sonderlich erfreut und beachtete sie dann gar nicht mehr, sondern sichtete die Briefe, die sie ihm gegeben hatte. Weil er auch nach geraumer Zeit keine Reaktion zeigte, fragte Maggie nochmal vorsichtig nach.
“Sir, ist alles okay? Ich meine wegen diesem Mr. Smith und so?”
Thomas murmelte nur: “Nein, es ist alles in Ordnung... alles in Ordnung, Maggie...”, und ging gedankenversunken auf seine Arbeitszimmertür zu.
Die beiden Frauen atmeten innerlich schon auf. Aber dann fuhr ihr Chef herum, zeigte auf Sally und ranzte sie an: “Okay, Sie werden jetzt dafür sorgen, dass ich von niemandem gestört werde. Keine Telefonanrufe durchstellen, keine lästigen kleinen Wichtigtuer hereinlassen und auch von Ihnen beiden will ich nichts sehen, es sei denn, ich rufe eine von Ihnen in mein Büro. Der Einzige, den Sie zu mir durchlassen, ist Dr. Philip Banks. Alles klar?!”
“Ja”, hauchte Sally und nickte ergeben.
“Fein, dann wollen wir mal wieder an die Arbeit gehen”, entgegnete Thomas und entschwand in sein Büro.
“Puh, hat der eine Laune”, meinte Maggie stöhnend, “da wollen wir mal hoffen, dass er nicht so oft seinen Glückstag hat, so wie der drauf ist.”
“Was soll’s”, entgegnete Sally und verzog den Mund, “ich bin trotzdem erleichtert, dass wir noch schnell genug waren beim Verstauen unseres kriminellen Handwerkszeugs. Stell dir mal vor, er hätte uns erwischt!”
“Das stell ich mir lieber gar nicht vor, weil es einer Apokalypse gleichkäme!”
Die beiden Frauen hatten sich gerade wieder in ihre Arbeit vertieft, als die Tür zum Chefbüro vehement aufgerissen wurde und Thomas wieder herauskam. Die Sekretärinnen zuckten entsetzt zusammen.
“Maggie, ich brauche mal eben einen Kleiderbügel”, erklärte Thomas, während er forschen Schrittes auf den Garderobenschrank zuging, “an einem meiner Bügel hat sich der Haken gelöst. Jetzt kann ich mein Jackett nicht mehr aufhängen.”
Im nächsten Moment hatte er auch schon die Schranktür geöffnet und fischte sich einen Bügel heraus. Als er die Tür wieder verschließen wollte, geriet allerdings ein Stück von Maggies Sommermantel dazwischen. Etwas hektisch schob er das Kleidungsstück zur Seite, damit ihm das nicht nochmal passieren sollte. Das hatte allerdings zur Folge, dass es auf einmal fürchterlich schepperte und klirrte und ihm eine Thermoskanne entgegenrollte. Um ein Haar wäre sie auf seinen Schuhen gelandet, wenn er nicht schnell zur Seite ausgewichen wäre. Das Bild, das sich ihm allerdings jetzt bot, brachte sein Blut in Wallung, und die Zornesröte stieg ihm ins Gesicht.
“Das glaube ich jetzt einfach nicht”, zischte er fast tonlos, während er auf das umgestoßene Geschirr deutete und gleichzeitig die beiden Frauen ansah.
Sally und Maggie starrten den Chef nun ihrerseits in blankem Entsetzen an. Für einen Moment sagte keiner ein Wort, die Stimmung schien förmlich zu knistern. Schließlich verzog Thomas grimmig seinen Mund und giftete die beiden Frauen an: “Sie scheinen unter Gedächtnisschwund zu leiden! Ich denke, wir hatten eine Vereinbarung. Haben Sie das vergessen?!”
“Äh, nein, Dr. McNamara”, kam Maggie Sally zuvor, “aber, nun ja, also, na ja, weil Sally doch heute Geburtstag hat und Sie doch sowieso heute nicht mehr ins Büro kommen wollten...”
“Ach so, das ist ja ganz was Neues!”, fauchte Thomas Maggie an, “wenn der Chef nicht da ist, dann halten sich die Sekretärinnen nicht an seine Anweisungen. Fein! Kann es vielleicht sein, dass das nicht das erste Mal ist? Haben Sie hier vielleicht schon öfter gepicknickt?! Das hier ist kein Café, das ist eine Justizbehörde!”
“Sir, wirklich”, stammelte Sally in blankem Entsetzen, “wirklich, es war wirklich das erste Mal, und wir werden es auch nie wieder tun.”
“Sehr richtig bemerkt”, befand Thomas, “weil ich Ihnen beiden eine Abmahnung erteilen werde und Sie bei der nächsten Unregelmäßigkeit sofort die fristlose Kündigung erhalten.”
Sprach’s und verschwand wieder in seinem Büro.
Als die Tür ins Schloss gefallen war, verzog Maggie verärgert den Mund, sah Sally an und meinte: “Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag und Gottes Segen.”
Sally verdrehte die Augen.
“Wieso redet der eigentlich von Gott?”, murrte sie, “er hält sich doch selbst für Gott! Stell dir mal vor, er müsste die Anweisungen eines höheren Wesens respektieren! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass er das täte!”
“Oh, unser Dr. Gnadenlos ist sehr fromm”, hielt Maggie dagegen, “du weißt doch, er ist im Kirchenvorstand hier vor Ort.”
“Sehr richtig”, befand Sally, “er ist im Vorstand , möglichst noch Vorstandsvorsitzender, das vermute ich schon mal eher. Und außerdem ist nicht überall christlich drin, wo christlich draufsteht. Es geht um Authentizität. Nur leider gibt es mehr Heuchler als echte Christen, die ihren Glauben ernst nehmen.”
“Mit anderen Worten, er ist ein Pharisäer.”
“Falsch, denn es gibt ein sehr gutes Gegenargument für diese Theorie”, erwiderte Sally und grinste breit, “er kann schon deshalb kein Pharisäer sein, weil ein Pharisäer ein Kaffee ist, der Rum enthält. Wie wir ja beide wissen, trinkt Dr. Gnadenlos keinen Kaffee, und von Rum wird ihm schlecht, davon muss er kotzen, unser Kotzbrocken.”
Maggie hätte beinahe schallend losgelacht ob dieser Schlussfolgerung, sie konnte sich gerade noch beherrschen. Und sie wusste natürlich, dass Sally einmal die Person des Pharisäers und dann eben jene Kaffeekreation gemeint hatte, die man aufgrund des heuchlerischen Verhaltens dieser Leute so benannt hatte. Aber wenn ihr Chef sie hätte lachen hören, wäre der zurück ins Vorzimmer gestürmt. Und dann wären sie sofort auf die Straße gesetzt worden.
“Und obendrein kommt Kaffee aus Kolumbien, wo die böse Drogenmafia zuhause ist”, setzte Sally noch eins drauf, “von daher können wir noch froh sein, dass er uns nicht als Helfershelfer seiner Erzfeinde bezeichnet und in Untersuchungshaft gesteckt hat, nur weil wir gerade Kaffee getrunken haben.”
Die Sekretärinnen kicherten leise in sich hinein.
“Gibt es eigentlich auch eine gute Eigenschaft an Dr. Gnadenlos?”, fragte Maggie lauernd zurück.
Sally kannte die Standardantwort schon.
“Ja, er sieht aus wie Harrison Ford”, entgegnete sie zuckersüß.
“Und? Hat das irgendwelche Auswirkungen auf sein Verhalten?”
“Nein.”
Zum Glück war den beiden der Humor noch nicht vergangen. Schließlich waren sie auch Leidensgenossinnen. Beide Frauen mussten selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen. Maggies Mann war vor fünf Jahren bei einem Autounfall plötzlich ums Leben gekommen. Logischerweise ging es ihr danach sehr schlecht, und sie war krankgeschrieben. Zum Glück hatte sie damals Sally schon gut eingearbeitet, so dass die ihren Part für einige Zeit mit übernehmen konnte. Denn Thomas McNamara hatte damals aufgrund seines Arbeitsvolumens auf eine zweite Sekretärin gepocht und sie auch bekommen. Ob das nun wirklich nötig gewesen wäre, bezweifelten so einige Leute im Gericht. Aber auf der anderen Seite gönnten sie die zweite Sekretärin vor allem Maggie. Tatsache war aber auf jeden Fall, dass diese Sekretärinnenstelle schon eine Menge an Kompetenz voraussetzte, mal ganz abgesehen davon, dass sie ein hohes Maß an Fingerspitzengefühl verlangte. Denn Dr. Gnadenlos war ein sehr launischer Mann, der einige Reizthemen hatte, wofür er im ganzen Gericht berüchtigt war. Eine Sache aber durfte man ihm gegenüber auf keinen Fall erwähnen, und zwar, dass Dr. Thomas McNamara, der ach so ehrenhafte Jurist, dem Filmschauspieler Harrison Ford so ähnlich sah, als wären die beiden eineiige Zwillinge. Grundsätzlich hätte das kein Problem dargestellt, andere Männer hätten es sogar positiv für sich zu nutzen gewusst, denn Ford war ein sehr beliebter und erfolgreicher Schauspieler. Nur für Thomas McNamara stellte das ein Problem dar, denn in seinen Augen waren Schauspieler - egal wie beliebt und erfolgreich sie waren - Taugenichtse, hochbezahlte Gammler und professionelle Lügner. Wahrscheinlich setzte in Thomas’ Augen die Tatsache, dass ein Schauspieler Erfolg hatte, der Sache noch die Krone auf.
Читать дальше