Oft geht es aber gar nicht mehr um Verhinderung von Gewalt an Schulen oder Vermeidung einer wachsenden Jugendkriminalität, die sich insbesondere an Hauptschulen oder ähnlichen schlechten Schulen (das Verschwinden der Hauptschulen durch Zusammenlegung mit den Realschulen bedeutet natürlich nicht das Verschwinden der Gewalttätigkeit selbst) derart ausbreitet, daß man mit den damit verbundenen Problemen nicht mehr zurechtkommt. Der „Kampf gegen Gewalt“ erfüllt gewissermaßen eine Alibi-Funktion für eigene Unfähigkeit, der Gewalttätigkeit Einhalt zu gebieten; er bietet auch eine Verdienst- und Profilierungsmöglichkeit an gesellschaftlichen Übeln, [44] die häufig mit der Phrase beginnen: „wir machen uns stark“ für oder gegen etwas und aus vielen nutzlosen Aufrufen, Aktionen und sonstigen Maßnahmen mit Selbstzweckcharakter bestehen. An vielen Schulen gibt es sog. „Mediationsräume“ und „Mediatoren“ oder „Konfliktlotsen“. Auch die Verkehrsbetriebe bieten Ausbildungskurse für Schülerbegleiter in Bussen an, die Konflikte und Vandalismus verhindern sollen; [45] es werden Theaterstücke aufgeführt und Filme zum Thema „Gewalt“ gezeigt, Kurse oder Seminare zur Teambildung und „Anti-Gewalttraining“ , Rollenspiele, Wettbewerbe [46] und Ähnliches veranstaltet in der illusorischen Erwartung, daß man Gewaltlosigkeit trainieren könnte oder sollte. Maßnahmen zur Konfliktprävention , genannt auch „Konfliktmanagement“ , die angeblich Gewalt vorbeugen sollen, indem sie künstliche Konfliktsituationen erfinden, vorspielen und diskutieren, [47] finden viel Zuspruch bei friedliebenden Pädagogen, nutzen aber meist nur den Veranstaltern selbst. Abgesehen von der kaum beweisbaren Annahme, daß Gewalt tatsächlich (nur) aus Konflikten entsteht, haben solche harmlosen Spielchen mit der brutalen Realität, in der es um Erpressung, Folter oder Mord geht, natürlich nichts zu tun. Daß sie nur bei denjenigen Anklang finden, die ohnehin mit Gewalt nichts im Sinn haben, dürfte klar sein.
1.3. Lösung 2: „Jugendschutz“ durch Verbote und Zensur
Es gibt aber noch eine andere Art der Bekämpfung von Gewalt und Jugendkriminalität, die weniger harmlos und friedlich ist und dennoch ebenso am Ziel vorbeischießt wie der Antigewalt-Aktionismus mit seinen Aufrufen, Kampagnen und Trainingsmaßnahmen. Daß bestimmte Politiker nach dem Tod der Lehrer am Erfurter Gymnasium insbesondere die Verschärfung der Gesetze zum „Jugendschutz“ gefordert haben, [48] liegt auf der Hand, ebenso wie deren Sinnlosigkeit. So entwarf man einen neuen Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV), in dem neben einem Altersnachweis auch die für konventionelle Medien geläufigen Praktiken, wie Sendezeitlimitierung u.ä. aufs Internet übertragen werden sollten. Internetexperten haben darauf hingewiesen, wie weltfremd diese Pläne sind. [49] Der umstrittene Staatsvertrag wurde dennoch verabschiedet. Demnach hat nun – im Unterschied zu der bisherigen Praxis der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia – der jugendschutz.net die Möglichkeit, direkt einzugreifen. Kritiker befürchteten, daß dem lauten Ruf der Politiker nach einem Vorgehen gegen „unliebsame Inhalte“ unter dem Vorwand von Jugendschutz eine Art Zensur im Internet eingeführt werden soll. [50] Außerdem zeigte das novellierte Jugendschutzgesetz in bezug auf Computer und Videospiele und den Handel mit ihnen skurrile Nebenwirkungen: Die verbindliche Altersfreigabe von Unterhaltungssoftware und Pflicht zur Kennzeichnung aller Spiele erzeugt zwar mehr Kosten, mehr Bürokratie und diverse Verkaufshindernisse, aber keinen nachweisbaren Schutz der Jugendlichen. [51] Im Gegenteil: Laut Berichten sind nun Spiele der brutalsten Art, die man früher verbieten konnte, einfacher zu kaufen und erfreuen sich großer Beliebtheit bei Jugendlichen. [52]
Dennoch hört man nicht auf, sich unter dem Vorwand „Risikofaktor Computerspiele“ mit mehr oder weniger unsinnigen Initiativen wie „Runder Tisch der Verantwortung“ zur „Verstärkung des Jungendmedienschutzes“ und Ähnlichem zu beschäftigen. Der Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware (BIU) hat zu einem Dialog über den Jugendmedienschutz Experten aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Bildung eingeladen. Ziel war es, einerseits Verstöße gegen Altersfreigaben konsequenter zu verfolgen, andererseits die „Medienkompetenz“ von Jugendlichen, Eltern und Erziehern zu verbessern. [53] Und trotz der bereits umfassenden Regelung in bezug auf gewaltverherrlichende oder gewaltverharmlosende Inhalte, deren Gründe (unabhängig von der Wirkung) noch teilweise nachvollziehbar sind, wollte man den Jugendschutz noch weiter „verschärfen“ und das Verbot von „Killerspielen“ von „gewaltverherrlichenden“ auf „gewalthaltige“ Spiele ausweiten. [54] In der Konsequenz könnte man fast alle Spiele verbieten, da sich ja immer etwas finden läßt, was mit „Gewalt“ oder „Kampf“ zu tun hat. Schließlich ist selbst Schach im Grunde ein Kriegsspiel, bei dem Figuren, die Soldaten symbolisieren, beseitigt werden, und auch das bei Kindern so beliebte Pokemon-Spiel besteht fast ausschließlich aus Kämpfen zwischen Pokemonbesitzern. In jedem noch so harmlosen Rollenspiel werden Gegner besiegt (d.h. getötet), was auch für die meisten Jump-and-Run- oder Aktionsspiele gilt. Übrig bleiben vielleicht nur noch Rätsel- , ggf. Sportspiele (aber ohne wilde Autofahrten) und die weniger begehrten „pädagogisch wertvollen“ Lernspiele, die aber so gestaltet sind, daß man bei ihnen auch nichts oder fast nichts lernt.
Es macht geradezu den Anschein, daß der Staat unter dem Vorwand eines undefinierbaren Jugendschutzes nicht Gewalttäter, Drogendealer, Perverse und andere bekämpft, sondern die Kinder selbst schikaniert und kriminalisiert. In einer konzentrierten Aktion der Berliner Ordnungsbehörden wurden unzählige Internet-Cafés zu Spielhallen deklariert und geschlossen. Ob die Untersagungsverfügung der Behörden rechtmäßig war, bleibt zweifelhaft. [55] Ähnliche überzogene Maßnahmen, wie Eintrittsverbote von Kindern und Jugendlichen (selbst in Begleitung von Eltern) in Videotheken , sind schon allein deshalb vollkommen unsinnig, da man zum Ausleihen von Filmen einen Ausweis benötigt, als ob das bloße Betrachten von leeren Kassettenhüllen Gewalt oder Pornographie an Kinder vermitteln könnte.
Der vorerst letzte Versuch, unter dem Vorwand von Kinderschutz Zensur im Internet einzuführen, war die Änderung des Telemediengesetzes nach dem Gesetzentwurf des Bundeskabinetts vom 22.4.2009. Die Familienministerin Ursula von den Leyen (darauf hin „Zensursula“ genannt) meinte damit gegen Kinderpornographie vorzugehen. [56] Das geplante Vorgehen, Internetseiten vom BKA (Bundskriminalamt) indizieren und von den Providern sperren zu lassen, ist nach Meinung vieler Fachleute undurchsichtig und unkontrollierbar, da die Sperrlisten weder einsehbar noch eindeutige Kriterien festgelegt sind. Es könnte damit das Grundrecht auf Informationsfreiheit gefährden. Die Zensurgegner ließen daraufhin eine Todesanzeige für den entsprechenden Grundgesetzartikel („Zensur findet nicht statt“) als Plakat drucken. Eine Petition an den Bundestag gegen diesen Gesetzesentwurf äußerte, das Ziel, Kinder zu schützen, werde nicht in Frage gestellt, nur sei die dafür vorgesehene Maßnahme denkbar ungeeignet: „Die Sperrung von Internetseiten hat so gut wie keinen nachweisbaren Einfluß auf die körperliche und seelische Unversehrtheit mißbrauchter Kinder.“ [57] Die tatsächlichen Täter würden von der Sperrung kaum betroffen; außerdem seien gesperrte Seiten nicht gelöscht, sondern blieben weiterhin erhältlich. Nach den empörten Reaktionen erklärte die Ministerin, sie wolle das Telemediengesetz „nachbessern“; der mangelhafte Entwurf hat sich allerdings kaum geändert. [58] Trotz aller Proteste und monatelanger Debatten hat der Bundespräsident Horst Köhler das umstrittene Internet-Sperrgesetz unterschrieben. [59]
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