In der Tat gibt es Fälle grausamer Mißhandlung von Kindern, ja der Tötung durch Vernachlässigung oder Sadismus, die lange unentdeckt bleiben. [30] Mit der Gewalttätigkeit von Jugendlichen haben diese Fälle überhaupt nichts zu tun, mit Körperstrafen nur selten. Nur hat man unter dem Vorwand solcher Grausamkeiten alle Körperstrafen gesetzlich verboten, und damit selbst einen Klaps auf den Hintern eines hysterischen oder aggressiven Kindes zur kriminellen Handlung erklärt. Ein feines Unterscheidungsvermögen zwischen Strafen als Erziehungsmaßnahmen und tatsächlichen Mißhandlungen, die meist im Verborgenen geschehen und bei denen die Täter oft ungeschoren davonkommen, scheinen die Reformpädagogen und ihre politischen Förderer nicht zu besitzen. Als der Generalstaatsanwalt Hansjürgen Karge auf einer Podiumsveranstaltung der CDU über das Thema „Jugendkriminalität“ äußerte, er lasse sich bei der Kindererziehung „einen Klaps“ nicht verbieten, wurde er vom Fraktionschef der Grünen Volker Ratzmann wegen „öffentlicher Aufforderung zu Straftaten“ angezeigt. Die danach zur Schau getragene öffentliche Empörung nicht etwa über die Anzeige, sondern über die Äußerung des Staatsanwalts zur Unsinnigkeit des „Klapsverbots“, erinnert in ihrem hysterischen Ton, ihrer Unverhältnismäßigkeit und Ausdrucksweise wieder an fanatische Anhängerschaft vergangener Regime: Man warf ihm vor, er wolle sich „über den erklärten Willen des Gesetzgebers hinwegsetzten“, daß es eine „gewaltfreie Erziehung“ stattzugeben habe; dies sei ein „Unding“ und „nicht tolerabel“. Abgesehen davon, daß das Verbot kontraproduktiv ist, in manchen Fällen etwa zu anderen raffinierten Strafen und dem Trend nach eher zur steigender Gewalttätigkeit von Jugendlichen führt, die keine spürbaren Gegenmaßnahmen mehr zu befürchten haben, bedeutet es schon an sich eine Einschränkung des Erziehungsrechts der Eltern.
Die subtile Ideologie einer straffreien „alternativen“ Erziehungsform, die im Grunde genommen Nichterziehen bedeutet, steht immer im Hintergrund dieser Umerziehungsversuche entmündigter Eltern. Eine ähnliche Fehldeutung des Sachverhalts zeigt auch die Diskussion über Gewalt an den Schulen allgemein, die den gängigen Übergriffen nichts entgegenzusetzen wagt, als freundschaftliche Gespräche mit den Tätern, etwa in der Art: „Ich finde es gut, daß du mir erzählst, wie du deinen Mitschüler angespuckt hast, aber ich finde es trotzdem nicht gut, daß du es gemacht hat.“ Man solle den Gewalttäter nicht rügen, weil man damit sein Vertrauen verlieren könnte; auf keinem Fall dürfe man seine „Würde“ verletzen. Die richtige Lösung sei ein „ gemeinschaftliches Miteinander “. [31] Ganz ernsthaft wird behauptet, daß man, wenn die bisherigen Strafen nicht greifen, auf Strafen an sich verzichten solle. Wo der gesunde Menschenverstand eine andere, in der Regel härtere Strafe als Maßnahme vorschlägt, läuft hier die pädagogische (wie auch juristische) Diskussion eher in Richtung Verzicht auf Strafen überhaupt.
All diese möglicherweise gut gemeinten Äußerungen gehen in ihrer Furcht vor Vergeltung und Strafe, die von vornherein als „schwarze Pädagogik“ diffamiert wird, von falschen Voraussetzungen über die Motive der Gewalttäter aus und erreichen schließlich durch ihre Bemühungen, die Täter als akzeptierte, wenn auch fehlgeleitete Partner „auf gleicher Augenhöhe“ zu behandeln, eher das Gegenteil ihres vorgestellten Ziels. Sie fördern die Gewaltbereitschaft der Jugendlichen, indem sie deren Ansicht bestätigen, daß sich Gewalt lohnt, da man dadurch Aufmerksamkeit, ja Zuwendung gewinnt, die man durch unauffälliges Verhalten nicht erhält. Dadurch hat das pädagogische Mißverständnis durch eigene Tabus auch die Schule außerstande gesetzt, wirkungsvoll gegen Gewalt vorzugehen. Deswegen werden unerwünschte Verhaltensweisen, wie Gewalttätigkeit gegen Mitschüler, lange geduldet, die Lehrer greifen nur selten ein, schauen lieber weg oder verschieben die Verantwortung in die Zuständigkeit von Beratern, Psychologen, Sozialarbeitern und anderen in der blühenden Hilfeindustrie Tätigen. Nur im Extremfall findet eine Quasibestrafung durch „Klassenkonferenzen“, zeitweiliges Schulverbot, Versetzen in andere Klassen oder an andere Schulen statt. Schließlich werden solche Kinder, die man nie richtig zu bestrafen wagte, als „problematisch“ oder „schwer erziehbar“ eingestuft und ggf. an Sonderschulen abgeschoben. Mit dem Loswerden der „Problemkinder“ glaubt man dann die Probleme gelöst zu haben.
Wie erfolgreich die neue gewaltfreie Pädagogik ist, unterstützt durch die verständnisvolle Behandlung der Täter durch die Justiz, sieht man an der Zunahme von Gewalt hauptsächlich bei Jugendlichen. [32] Insbesondere nach den Vorfällen an der Neuköllner Rütli-Hauptschule , wo Unterricht ohne Polizeiüberwachung unmöglich geworden war, wurde deutlich, wie die moderne Pädagogik angesichts des Desinteresses der Schüler am Unterricht und deren zunehmend aggressiven Verhaltens (besonders arabischstämmiger Jugendlicher) vollständig versagte. [33] Nichtsdestoweniger reagierte die pädagogische Prominenz wieder mit einem Musterprojekt aus der Kategorie friedlicher Gewaltbekämpfung, nämlich mit der Einführung einer Wahlpflicht-AG Boxen. Schließlich versuchte man mit diversen Tanz- und Medienprojekten bis hin zum Tragen einer besonderen „Rütli-Mode“ die Problemschule zu einem Vorzeigeprojekt umzuwandeln. [34] Das scheint ihnen inzwischen auf eine Weise gelungen zu sein: Das ständig erweiterte Großprojekt für 35 Millionen Euro mit Grundschule, Kindergarten und weiteren geplanten Einrichtungen (Elternhaus, sozialpädagogischer Dienst, „Lernwerkstatt“ usw.) heißt jetzt „Campus Rütli“ . [35] Warum aber ausgerechnet gewalttätige Jugendliche Boxen lernen sollten, fragte niemand, und ob ihnen der „Break-Dance“ oder was auch immer sie jetzt in der neuen „Gemeinschaftsschule Neukölln“ machen (vom Unterricht wird nichts gesagt), dazu hilft, anständige Menschen zu werden, bleibt zweifelhaft.
Die nie geahndete Gewalt beginnt mit brutalem Umgang gegenüber Mitschülern (Erpressungen, Drohungen, Schlägen), steigert sich zu Überfällen auf den Straßen durch Jugendbanden an Kindern oder Obdachlosen und reicht bis hin zu grausamen Morden aus „Frust“ oder Langeweile. Beispiele davon sind etwa der grausame Mord, verübt von drei Jugendlichen an einem sechzehnjährigen Jungen, [36] der unmotivierte Totschlag eines Obdachlosen durch acht Jugendliche, [37] die alle mit überaus milden Strafen geahndet wurden. [38] Am letzteren Fall ist bezeichnend, daß das „motivlose Verhalten“ von meist jugendlichen Tätern bei Prozessen strafmildernd wirkt. Es war hierbei von „gruppendynamischen Prozessen“ und davon die Rede, daß das Opfer eigentlich kein Mensch mehr gewesen sei, „sondern eine Sache, auf die man eintreten kann“. Das Töten aus Langeweile ist somit nach dieser Logik weniger schlimm als motivierte Taten. [39] Als ein weiterer kaum faßbarer Fall, der vermeidbar gewesen wäre, hätten die Richter nicht bei dem bereits vorbestraften und auffälligen Gewalttäter Haftverschonung erlassen und die „Jugendhilfe“ mit ihren politisch korrekten Postulaten nicht vollständig versagt, kann der Mord eines siebenjährigen Kindes durch einen Sechzehnjährigen „aus persönlichem Frust“ genannt werden. [40] Kennzeichnend für all diese Fälle sind die Verantwortungsverweigerung der Gesellschaft sowie die entgegenkommende Behandlung der Täter, die dem Paradigma des Nichtstrafens der neuen Pädagogik folgt.
Die Berliner Jugendrichterin Kirstin Hiesig beschrieb in ihrem Buch Das Ende der Geduld aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung mit jugendlichen Gewalttätern die schleichende Brutalisierung und den Hemmungsverlust von Kindern und Jugendlichen hauptsächlich ausländischer Herkunft. Sie empfahl (neben bereits früher geforderter Verkürzung der Jugendgerichtsverfahren) statt der bisherigen unwirksamen Praxis geschlossene Heimerziehung für kriminelle Kinder und härtere Strafen für Gewalttäter. [41] Die Reaktionen auf ihr kurz nach ihrem (angeblich freiwilligen) Tod erschienenen Buch waren üblicherweise wieder hohe Zustimmung in der Bevölkerung und den Sachverhalt verharmlosende Kritik seitens politisch korrekter Eliten: Statistiken besagen, die Jugendkriminalität sei gesunken, das Anzeigenrisiko für Ausländer liege höher als bei deutschen Gewalttätern, und es sei schließlich nachgewiesen, daß das Einsperren von kriminellen Kindern ihre Rückfälligkeit erhöht statt sie zu senken, weil sie in der Strafanstalt die falschen Leute kennenlernen. Im großen und ganzen sei Hiesig nur verbittert und psychisch erschöpft gewesen, im wesentlichen aber im Unrecht. [42] Mit einer solchen Bewertung, in der praktische Erfahrungen herabgesetzt oder wegerklärt werden, entfernt sich die theoretische Gewaltbekämpfung (ähnlich der marxistischen Theorie) zunehmend von der alltäglichen Wirklichkeit. Drei Jahre nach Hiesigs Tod kritisiert ein anderer Jugendrichter, Andreas Müller, der am Amtsgericht Bernau bei Berlin tätig ist, die unsäglichen Zustände in der deutschen Rechtsprechung, und plädiert für ein schnelles und konsequentes Durchgreifen als Prävention gegen weitere Straftaten. [43] Doch solche auf realen Erfahrungen gegründeten Urteile werden innerhalb der verzerrten Wahrnehmung der politisch korrekten Weltanschauung (vom Müller als „Sozialromantik“ bezeichnet) ausgeblendet.
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