»Du kannst mich nicht einfach einsperren! Was ist mit meiner Familie und meinem Studium?«, erwiderte ich patzig. »Was ist mit den anderen? Tara, Kira, ... «
Marces fuhr mir wütend ins Wort: »Ich kann was nicht? Dich einsperren?«, brüllte er, während er sich über mich beugte. Ich zuckte erschrocken zusammen. So hatte ich ihn noch nie zuvor erlebt. Er kochte vor Wut. Eine Sekunde später ergriff er energisch mein Kinn und zog mein Gesicht zu sich. »Ich sag dir jetzt mal, was ich kann. Du hast Hausarrest! Solange ich das sage. Und du wirst gefälligst tun, was ich will, ansonsten erlebst du mich von einer ganz anderen Seite. Du gehörst mir! Haben wir uns verstanden?«
Mir wurde schmerzlich bewusst, dass er mir absichtlich weh tat um mir seine Stärke zu demonstrieren. Als er bemerkte, dass ich am ganzen Körper erschrocken zitterte, gab er mir einen Kuss auf den Mund, um meine scheinbare Kapitulation zu besiegeln. Ich ließ ihn gewähren, weil ich einen Moment lang Schlimmeres befürchtete.
»Ich werde mir nehmen, was ich will. Hast du das verstanden?«, fügte er triumphierend an.
Ich nickte, während ich versuchte ihm nicht in die Augen zu sehen und mich zu beruhigen. Einen Moment später ließ Marces mich wieder los und richtete sich auf. »Und übrigens: Wir fliegen zurück nach Prag. Jena hat dich zu sehr verleitet. Deine Unterlagen fürs Studium lasse ich dir nachholen. Du wirst genug Zeit haben es von zu Hause aus fortzuführen. Deine geliebte Familie werde ich darüber informieren, dass du im Moment keine Zeit für sie hast. Wenn du dich benimmst und gehorchst, können wir vielleicht noch einmal darüber sprechen, ob und wann du mit ihnen reden darfst. Und was deine Schwestern und Brüder angeht: Dieses Drachenpack ... Da kannst du froh sein, wenn sie die Insel verlassen dürfen. Aber wiedersehen wirst du sie nicht.«
Dann drehte er sich um und lief ein paar Sitzreihen nach vorn, um sich dort in einen der anderen Sessel fallen zu lassen. Ich atmete tief ein und aus, legte meinen Kopf zurück. Oh, mein Gott! Was war da gerade passiert? War das sein wahres Gesicht? Wie sollte ich das überleben?
Befreiung der Drachenkinder
Varush lief schnellen Schrittes den Weg entlang zum Haus der Vampire. Er war fest entschlossen den Willen seines Vaters durchzusetzen. Ihm war bewusst, dass es nicht einfach werden würde, schließlich war er zum ersten Mal bei solch einem Treffen dabei.
Würde man ihn gewähren lassen? Würde der Ruf seines Vaters ausreichen, um die Vampire zum Einlenken zu bewegen?
Er dachte an die Worte seines Vaters. An die Lektionen. die er ihn über die anderen Unsterblichen geleert hatte: Niemals Schwäche zeigen. Niemals Angst spüren. Souverän sein und immer eine Alternative im Hinterkopf haben. ›Ja‹, das würde er sein oder es zumindest versuchen, dachte er bei sich. Er würde seinen Vater stolz machen.
»Sie werden uns nicht einfach einlassen.«, sagte Andal ruhig, während er versuchte mit Varush Schritt zu halten.
»Ich hoffe, die Erklärung reicht um sie umzustimmen«, erwiderte Varush mutig und wedelte mit der Dokument in der Luft umher. Er durfte jetzt keinen Fehler machen und vor allem musste er sich beeilen. Tamilia würde es ihm nicht erlauben die anderen mitzunehmen. Aber ihre Schergen waren vielleicht leichter zu überzeugen.
»Bist du dir sicher, dass wir nicht auf ihn warten sollten?«, fügte Andal irritiert an. »Nichts gegen dich, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Daamien eine so wichtige Aufgabe seinem siebzehnjährigen Sohn überträgt. Du bist noch ein halbes Kind.«
Varush blieb im selben Moment stehen und drehte sich zu Andal um. »Mein Vater zählt auf uns! Er muss sich um Niel kümmern. Er kann nicht überall gleichzeitig sein. Hilfst du mir nun oder willst du wieder umdrehen?«
Andal seufzte. Er war nicht unbedingt jemand, der zu allem und jedem seine Meinung dazu gab. Aber an dieser Angelegenheit lag ihm wirklich etwas und das brachte ihn in einen innerlichen Zwiespalt. Einerseits hielt er Varush für zu unerfahren um diese Aufgabe zu bewältigen und hätte sie lieber selbst erledigt. Anderseits schätzte er Daamiens Meinung und der glaubte an seinen Sohn. Was sollte er also tun?
»Natürlich helfe ich dir!«, antwortete er mit nachdenklichem Blick. »Ich hätte nur nicht gedacht, dass er dich schickt. Nimm mir das nicht übel. Aber Daamien hat mehr diplomatische Erfahrung als du und das wird hier bitter von Nöten sein. Hier herrschen seit Jahrhunderten erbitterte Machtkämpfe. Da braucht es Fingerspitzengefühl. Diese verdammte Insel verschlingt einen sonst.«
Während er dies sagte, wechselte sein Gesichtsausdruck von nachdenklich zu ernst. Er wollte Varush bewusst machen, dass dies kein Zuckerschlecken werden würde.
Varush zögerte. Was sollte er darauf antworten? Natürlich hatte er nicht die Erfahrung, die sein Vater hatte. Aber er hatte viel von ihm gelernt. Hatte jedes Wort, das er gesagt hatte aufgesogen und versucht zu behalten. War er so gut wie sein Vater? Natürlich nicht! Das wusste Varush selbst. Aber hätte sein Vater ihm diese Aufgabe übertragen, wenn er nicht an ihn glauben würde? ›Nein‹, dachte er bei sich. ›Ich schaffe das. Diese Insel, diese korrupten Leute werden mich nicht besiegen.‹ Er atmete tief durch und blickte zur Burg hinauf. Irgendwo dort wartete sein Vater gerade auf die Möglichkeit mit Niel zu sprechen. Er versuchte sich zu sammeln und dachte an seines Vaters Worte: ›Mach dir die Schwächen der anderen zu nutzen. Sei aufrichtig, aber fordernd. Sei diplomatisch, aber konsequent.‹
»Wir schaffen das!«, antwortete Varush schließlich und lief entschlossen weiter. »Ich werde euch beweisen, dass ich gut aufgepasst und sehr viel von euch gelernt habe.«
Andal folgte ihm daraufhin stillschweigend. Da er Varush nicht davon überzeugen konnte, die ganze Sache ihm zu überlassen, blieb ihm keine andere Wahl, als ihm zu helfen und das Beste daraus zu machen.
Als sie am Haus der Vampire ankamen, trafen sie auf Gilion, der vor der Eingangstür mit einem großen muskulösen Mann diskutierte. Als Gilion Varush bemerkte, deutete er seinem Gegenüber an Ruhe zu bewahren. Irgendetwas hatte ihn sichtlich aufgebracht. Varush atmete tief ein und aus. Er hoffte inständig, dass Gilion noch keine Anweisung von Tamilia erhalten hatte.
»Varush, was willst du hier? Solltest du nicht bei deinem Vater sein? Ist ja nett, dass du uns Gesellschaft leisten willst, aber Kinder sollten auf der Insel nicht alleine umherirren«, rief ihm Gilion mit einem schäbigen Grinsen zu.
Varush trat daraufhin langsam an ihn heran und begrüßte ihn höflich: »Hallo, Gilion. Wir möchten die Drachenkinder abholen. Wir werden sie umgehend zurück nach Norwich bringen. Dann können sie keinen weiteren Schaden anrichten.« Dabei ließ er sich seine Wut über Gilions Worte nicht anmerken. Schließlich war er nun schon der Zweite, der ihn für zu naiv und unerfahren hielt.
»Wir haben keine Anweisungen diesbezüglich. Wir werden sie nicht gehen lassen!«, antwortete der andere Mann.
»Malik! Halt dich zurück!«, fuhr ihm Gilion ins Wort. Malik war ein sichtlich mürrischer alter Mann. Seine langen weißen Haare hatte er zu einem sorgfältigen Zopf zusammengebunden. Sein schwarzer Anzug war säuberlich gebügelt und gesteift. Er war ein absolut pflichtbewusster und höriger Geselle.
»Entschuldige Varush. Malik hat keine Manieren. Aber er hat nicht ganz Unrecht. Wir haben keinerlei neue Anweisungen von Prinzessin Tamilia bekommen. Wir können die Drachenkinder nicht einfach gehen lassen.«
»Das ist mir bewusst.«, antwortete Varush mit ruhiger und besonnener Stimme und rollte die Erklärung aus. »Ich habe die Erklärung über den Ablauf des Konzils mitgebracht. Auf dieser ist vermerkt, dass ich zitiere: ›Die Drachen Tara, Kira, Le, Osiris, Danny und Elen bleiben ebenfalls im Haus der Vampire, haben aber freien Zugang zur gesamten Insel. Die Teilnahme am Konzil wird ihnen aufgrund eventueller Verstrickungen untersagt. Mit Ende des Konzils werden diese Verstrickungen vom Gericht als nichtig erklärt und sie können ihrer freien Wege gehen.‹ Du kannst es gerne nachlesen.«
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