»Danke«, sagte Marie überrascht über dieses unerwartete Maß an Kooperation. An die Gründerin Mod’écos gewandt, fügte sie hinzu:
»Wir benötigen mindestens auch die Geräte des gesamten restlichen Managementteams.«
»Natürlich«, erwiderte Anne Delacourt. »Ich werde das sofort veranlassen. Nur Anne Cabart, unsere Marketingchefin, ist noch bis morgen im Urlaub in Thailand. Ihren Laptop und ihr Handy hat sie bei sich.«
»Danke. Hier ist meine Karte«, sagte Marie und reichte Anne Delacourt eine ihrer Visitenkarten. »Rufen Sie mich bitte an, falls Sie Informationen für uns haben.«
»Insiderinformationen?«, fragte Gael Johnson mit einem belustigten Lächeln.
Anne Delacourt räusperte sich vernehmlich, sagte jedoch nichts. Sie nahm die Karte entgegen, wandte sich ab und entfernte sich ein paar Schritte, um ein paar Worte mit ihrem Mann zu wechseln.
Als Marie auch dem jungen CFO ihre Karte gab, trafen sich ihre Blicke, während ihre Hand seine für einen Sekundenbruchteil berührte.
»Sie können mich jederzeit kontaktieren ...«, sagte sie steif.
»Ich werde darüber nachdenken«, entgegnete der junge Mann und lächelte verheißungsvoll.
»... falls Sie ein Geständnis ablegen wollen«, fügte Marie hinzu.
»Vielleicht später«, erwiderte Johnson.
Marie machte Anstalten, sich abzuwenden, als der CFO sagte:
»Warten Sie!«
Marie wandte sich wieder ihm zu. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die Gründerin von Mod’éco sich von Philippe Delacourt verabschiedete.
Geschäftspartner, ja, ein sich liebendes Ehepaar, nein, stellte sie fest. Wie Delacourt gesagt hatte. Doch irgendwie hatte Marie in diesem kurzen Augenblick den Eindruck, dass auch diese geschäftliche Beziehung nicht auf Augenhöhe stattfand. Philippe Delacourts Körpersprache war souverän und dominant – ganz das Gegenteil von der seiner Frau. Maries Hauptaugenmerk war jedoch auf Johnson gerichtet, der einen Kugelschreiber aus der Tasche seiner Jeans gefischt hatte und damit etwas auf der Rückseite der Karte, die er soeben von Marie bekommen hatte, notierte.
»Hier!«, sagte er, Marie die Karte zurückreichend, und lächelte. »Falls Sie mich gern erreichen wollen jetzt, wo Sie mein Handy haben.«
Zögernd nahm Marie die Karte und achtete darauf, dass sich ihre Hände dieses Mal nicht berührten.
Gael – 01.33.42.15.69 – any time.
»Mein Festnetz zu Hause«, erklärte Johnson. »Wenn ich nicht zu Hause bin, ist es auf mein Telefon hier im Büro weitergeleitet. So, ich muss los! Bis bald!«
Marie blickte ihm ein paar Sekunden nach. Schließlich gab sie sich einen Ruck. Sie hatten hier noch zu tun.
Nachdem Philippe Delacourt sich auch von Marie und Christophe de Mirabeau verabschiedet hatte, trafen Marie und ihr Kollege bis auf die verreiste Marketing-Chefin Anne Cabart einzeln die restlichen Mitglieder des Mod’éco-Managementteams.
Dabei erlebte Marie eine Enttäuschung. Die Aussagen des Personalchefs, des Produktionschefs, der Design- und der Technologiechefin von Mod’éco stimmten in allen Punkten überein. Keiner kannte eine Patricia Courtois. Alle erwähnten eine Krisensitzung am Sonntag, dem 10. April 2011. Das Managementteam hatte gerade die vorläufigen Zahlen des ersten Quartals gesehen, und Gael Johnson hatte den anderen erklärt, was sie zu erwarten hatten: Sie würden den Markt enttäuschen, die Aktie entsprechend aller Voraussicht nach an Wert verlieren. Unabhängig davon mussten sie etwas tun. Also steckten sie die Köpfe zusammen wie zur Anfangszeit ihrer Zusammenarbeit. Sie waren sehr produktiv an jenem Sonntag und zufrieden mit den Plänen, die dabei herauskamen. Sie bestellten Pizza und italienischen Rotwein und genossen ihre Gesellschaft. Sie waren ein eingespieltes Team. Auch ihre Aussagen stimmten dermaßen überein, dass man den Eindruck bekommen konnte, sie wären alle eine einzige Person. Keiner von ihnen war bereit, einen Verdacht zu formulieren. Alle betonten bezüglich der schlechten Quartalsergebnisse, dass sie schon seit Jahren aus Fehlern am meisten lernten, und dass es nach vorne zu blicken galt. Und alle händigten fast auffällig bereitwillig ihre Laptops und Smartphones aus.
Am frühen Nachmittag fuhr Marie ins Kommissariat und machte ein paar Grundlagenrecherchen. Sie rief mehrere Finanzanalysten an und befragte sie nach ihrer professionellen Meinung zu dem jungen Unternehmen. Die Experten bestätigten einstimmig den Eindruck, den Marie selbst gewonnen hatte: Die unerwartet schlechten Ergebnisse zum ersten Quartal waren ein Schock für den Markt gewesen, was aber hauptsächlich daran lag, dass sie eben unerwartet gewesen waren. Grundsätzlich sei die Lage Mod’écos weiterhin aussichtsreich. Einer der Analysten ließ sich sogar zu der Aussage hinreißen, dass dieser schmerzhafte Dämpfer durchaus positiv sein könnte, weil die Erwartungen des Marktes so auf ein realistisches Niveau gesenkt würden. Wichtig sei, jetzt nicht nervös zu werden, was für das Unternehmen bedeutete, das Kapital aus dem Börsengang intelligent zu investieren. Für Anleger bedeutete es, Geduld an den Tag zu legen.
Um 17 Uhr verließ Marie das Kommissariat, um Patricia Courtois einen Besuch abzustatten. Das Ehepaar Courtois lebte in einer der teuersten Wohngegenden im 16. Arrondissement von Paris. Nur Frau Courtois war zu Hause und erwartete Marie an der Wohnungstür im obersten Stockwerk.
Courtois war eine elegant gekleidete Frau Mitte vierzig. Als sie Marie erblickte, betrachtete sie sie von oben herab und war Marie auf Anhieb unsympathisch. Marie stellte sich vor und wies sich aus. Als sie dann auf Courtois’ spekulatives Geschäft mit der Mod’éco-Aktie zu sprechen kam, reagierte Courtois überraschend: Sie leugnete keinesfalls, einen Tipp bekommen zu haben, im Gegenteil. Allerdings behauptete sie, dass dies anonym geschehen war, sie also nicht wüsste, ob dieser Tipp aus dem Inneren Mod’écos gekommen war. Entsprechend hätte es sich für Courtois nicht um ein Insidergeschäft gehandelt – und schon gar kein illegales. Mehr wollte Courtois ohne ihren Anwalt jedoch nicht sagen. Für weitere Aussagen stand Courtois vorerst sowieso nicht zur Verfügung, da sie am kommenden Morgen nach La Réunion fliegen würde, um dort mit ihrem Mann drei Wochen Urlaub zu machen.
Um sich auf andere Gedanken zu bringen, rief Marie auf dem Nachhauseweg Michel Moncourts Nummer an. Sie hoffte, dass Moncourt wusste, mit welcher Einstellung Jean-Baptiste de Montfort den Fall Goldberg anging. Moncourt ging jedoch nicht ans Telefon, und Marie entschied sich, keine Nachricht zu hinterlassen.
Als sie in ihrer Wohnung angekommen war, ließ sie sich als Erstes in dem verwinkelten Badezimmer ein heißes Bad einlaufen. Während die Badewanne sich füllte, entledigte sie sich ihrer Schuhe und Jacke und setzte sich an den einzigen Tisch in ihrem einen Zimmer, der gleichzeitig Ess- und Schreibtisch war. Ihre Kopie der Goldberg-Akte lag genauso dort, wie sie sie am Morgen liegen gelassen hatte. Daneben stand ein alter Laptop. Sie startete den Computer und schlug die Akte auf.
An einundzwanzig Fällen hatte Marie in ihren rund zwei Jahren bei der Kriminalpolizei bisher gearbeitet. Für jeden hatte sie einen Ordner auf ihrem Computer angelegt. Sie mochte offiziell im Urlaub sein, doch am vergangenen Wochenende hatte sie zwei Ordner hinzugefügt: 22_Mod’éco . 23_Goldberg .
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