Weil sich in den Quellen der Moskauer Archive jedoch keinerlei entsprechende Hinweise auf Redls Homosexualität fanden, gehen Historiker heute davon aus, dass die Initiative möglicherweise aber auch von Redl selbst ausgegangen sein könnte, denn es war bekannt, dass der sich in ständiger Geldnot befand, um seinen aufwendigen Lebensstil finanzieren zu können. (3)Anfangs wurde Redl vom russischen Militärattaché Baron de Roop betreut, später von Oberst Mitrofan Martschenko. Beide wurden indes als Spione entlarvt und des Landes verwiesen.
Weil die Russen Redl recht gut bezahlten, konnte er einem Lebensstil frönen, den sich sonst eigentlich nur Aristokraten leisten konnten. So bevorzugte er nur Lokale der gehobenen Klasse, schaffte sich zwei teure Autos an, leistete sich eine eigene Dienerschaft und Pferde und "entlohnte" seine jeweiligen Liebhaber mit Apanagen. (4)Um seine Einnahmen zu steigern, bot er seine Unterlagen schließlich auch dem italienischen und dem französischen Geheimdienst an; auf diese Weise erzielte er ein Jahresverdienst von etwa 50000 Kronen. Und das alles ausgerechnet am Vorabend des Ersten Weltkrieges, als sich die Großmächte gegenseitig belauerten, um Kolonialgebiete stritten und am Balkan der große Krieg ausbrach...
Später stellte sich heraus, dass Redl zwar nicht oft Unterlagen beschafft hatte, dafür aber jeweils recht umfangreiche Dossiers, die von enormer militärischer Bedeutung für die Gegner der Monarchie gewesen waren: Es handelte sich dabei um Mobilmachungspläne, Truppenstärken, Inspektionsberichte oder Festungspläne. Oft photographierte er die Unterlagen, die Aufnahmen entwickelte er selbst. Auch österreichische Spione enttarnte er oder er lancierte im Generalstab falsche russische Berichte über deren Truppenstärke, die Qualität der Truppen und die Dauer der Mobilmachung.
Natürlich fielen die Rückschläge, welche der österreichische Kundschafterdienst dadurch erlitt, auf. Redl und seine Auftraggeber versuchten deshalb, diese Pannen durch vermeintlich "erfolgreiche Aktionen" wieder wettzumachen. Diese beruhten dann auf gefälschten russischen Geheimdokumenten und "enttarnten" russischen Agenten, die für Redls Auftraggeber inzwischen zu einer Belastung geworden waren und geopfert wurden.
Ziemlich unbegreiflich ist es allerdings, weshalb niemand aufgrund des aufwendigen Lebensstils Redls stutzig wurde; der Nachrichtendienst begnügte sich offensichtlich mit der Erklärung, Redl habe eine entsprechende Erbschaft gemacht.
Alfred Redl wurde dann am 18. Oktober 1912 nach Prag versetzt, wo er den Posten des Generalstabschefs des VIII. k.u.k.Regiments erhielt. Dies erleichterte ihm seine Tätigkeiten, denn auf diese Weise gelang es ihm, völlig unauffällig mit Verbindungsleuten der Gegenseite Kontakt aufzunehmen; Geldsendungen wurden in der Regel postalisch erledigt. Eine Zeitlang ging das gut, dann aber passierte etwas, das zur Enttarnung Redls führen sollte.
Eine solche postlagernde Geldsendung, die an einen gewissen Nikon Nizetas gerichtet war, wurde nämlich vom Hauptpostamt Wien nach dem Ablauf der Abholfrist als unzustellbar an das Aufgabepostamt in Eydtkuhnen (Ostpreußen) zurückgeleitet. Weil man dort - auf der Suche nach entsprechenden Hinweisen auf den Absender des Briefes - denselben öffnete, entdeckte man Banknoten im Wert von 6000 Kronen (5)sowie jede Menge Adressen, weshalb man diesen Brief unverzüglich an den deutschen Nachrichtendienst sandte. Major Walter Nicolai fielen dabei vor allem zwei den Preußen und Österreichern bekannte Spionageadressen auf und so informierte er den österreichischen Major i.G. Maximilian Ronge, der für das Evidenzbüro arbeitete. Dabei schwebte ihm ein Täuschungsmanöver vor: Der Brief sollte den Empfänger unbedingt misstrauisch werden lassen. Ronge ließ daher einen neuen Brief schreiben, der nun von Major Nicolai in Berlin aufgegeben wurde. (6)Edmund von Gayer, der Chef der Staatspolizei, ließ den Schalter für postlagernde Sendungen im Postamt am Fleischmarkt etwa einen Monat lang sorgfältig überwachen und hoffte inständig, dass der Empfänger noch einmal nach dem Brief fragen werde. Und genau das passierte auch: Redl erschien am 25. Mai 1913 tatsächlich, wurde verfolgt und schließlich aufgrund der handschriftlich ausgefüllten Abhol- und Aufgabescheine, die er achtlos weggeworfen hatte, eindeutig als Empfänger identifiziert.
Dies bedeutete für Franz Conrad von Hötzendorf, den Chef des k.u.k. Generalstabes, ein geschicktes Vorgehen. Denn neben dem Geheimnisverrat stand gleichzeitig ein höchst peinlicher Prozess bevor, bei dem wohl zahlreiche Pannen und Fehler des Generalstabes aufgedeckt werden würden, was konsequenterweise zu seiner Abberufung führen musste. Deshalb ordnete er strikte Geheimhaltung an und befahl außerdem die sofortige Verhaftung Redls, der sich zu diesem Zeitpunkt im Hotel Klomser in der Wiener Herrengasse aufhielt.
Die kleine Gruppe, bestehend aus dem Auditor Vorlicek, Urbanski, dem Leiter des Evidenzbüros, Höfler, dem Stellvertreter des Generalstabschefs und dem Major Ronge, traf den Spion in seinem Zimmer an, der wohl schon mit diesem 'Besuch' gerechnet hatte. Redl meinte lakonisch: " Ich weiß schon, weshalb die Herren kommen. Ich bin das Opfer einer unseligen Leidenschaft; ich weiß, dass ich mein Leben verwirkt habe und bitte um eine Waffe, um mein Dasein beschließen zu können." (7)
Anschließend gestand er Major Ronge, dass er in den Jahren 1910 und 1911 fremde Staaten im großen Stil bedient, dabei jedoch keine Mitarbeiter gehabt habe. Der Major besorgte persönlich in seinem Büro eine Pistole sowie ein Päckchen Gift für Redl; daraufhin zog sich die Delegation zurück, um dem Enttarnten eine Möglichkeit zu geben, " seinem Leben ein rasches Ende zu bereiten ". (8)In den frühen Morgenstunden des darauffolgenden Tages fand man Alfred Redl, der sich durch einen Schuss in den Mund getötet hatte und teilte dies dem Generalstab mit. Conrad informierte danach den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand durch ein Telegramm, dass Redl sich " aus bisher unbekannter Ursache " selbst erschossen habe. Ähnliche Informationen gingen an den Kaiser selbst sowie an die Presse.
Der Vertuschungsversuch scheiterte jedoch. Denn als eine Kommission nach Prag geschickt wurde, um dort Redls Unterkunft sorgfältig zu untersuchen und etwaige Spuren zu sichern, wobei unter anderem auch ekelerregende Bilder gefunden wurden, die an den homosexuellen Beziehungen Redls keinen Zweifel ließen, bekam dies unter anderem auch Egon Erwisch Kisch, der berühmte Lokalreporter der deutschsprachigen Prager Zeitung 'Bohemia' , mit. Es fanden sich außerdem photographierte Geheimmaterialien, Deckadressen, Spionageaufträge und Geldanweisungen. Aus den Zeitungen hatte Kisch schon vom Tode Redls erfahren; schnell konnte er nun eruieren, dass der Vorfall im Hintergrund auch mit Spionage und Homosexualität zu tun gehabt haben musste und so veröffentlichte er in der 'Bohemia' folgende Meldung auf der Titelseite:
"Von hoher Stelle werden wir um Widerlegung der speziell in Militärkreisen aufgetauchten Gerüchte ersucht, dass der Generalstabschef des Prager Korps, Oberst Alfred Redl, der vorgestern in Wien Selbstmord verübte, einen Verrat militärischer Geheimnisse begangen und für Russland Spionage getrieben habe." (9)
Diese Meldung platzte wie eine Bombe; auch Kaiser und Thronfolger erfuhren nun von Redls Verrat und in der Folge bemühte man sich intensiv um Schadensbegrenzung. So teilte das Kriegsministerium nach ein paar Tagen mit, dass Redl sich das Leben genommen habe, " als man im Begriffe war, ihn wegen homosexueller Verfehlungen und Geheimnisverrat an fremde Mächte zu überführen“ (10) , verschwieg aber schamhaft die Tatsache, dass man Redl zum Selbstmord gedrängt und gleichzeitig eine lückenlose Aufklärung des fatalen Falles verhindert hatte...
Читать дальше