„ Rückzug! “, stieß Jayden sofort geistesgegenwärtig hervor und packte Mo, um ihn zurück zu der ersten Tür zu ziehen und den Durchgang so schnell wie möglich zu verlassen. Sie schafften es nicht mehr, die Tür mit dem Stahlrad zu verschließen, und drückten sie mit den Händen zu, während sie mit den Pistolen im Anschlag an den Wänden lehnten. Sie hörten das Klirren von Flaschen aus einer der Getränkekisten und warteten mit höchster Anspannung ab, bis die Geräusche wieder verstummten.
Als sie sich nach einigen Minuten zurück in den Gang wagten und erneut durch den Türspalt sahen, war der Elektrowagen verschwunden. Dafür gab es auf dem breiten Mittelgang eine neue Entdeckung zu machen: Ein zylinderförmiger Roboter mit drehbarem Kopf und Greifarmen steuerte einige der Computer an, um etwas in eine Öffnung einzuschieben, was wie eine große Festplatte aussah. Mo ließ den Auslöser der Kamera nicht mehr los und hatte in wenigen Minuten mehr als hundert Aufnahmen gemacht. Doch schon bald fühlten sie sich gezwungen wieder den Rückzug anzutreten, da die Zeit bis zum Morgengrauen unaufhaltsam schwand.
Nach ihrer Rückkehr in den großen Schacht mit der Treppe wurde sofort klar, dass die Leiter zu dem Stahlpodest, die ihnen bereits zuvor aufgefallen war, der einzig mögliche Weg zu ihrem Ziel war. Das GPS-Gerät zeigte nur noch eine Entfernung von 16 Yards zu Diamond an, und der Wert verringerte sich sofort, als sie begannen die Leiter hinaufzusteigen. Auf dem Podest wartete eine verrostete Stahltür auf sie, hinter der ein stockfinsterer Gang in die letzten begehbaren Winkel des Bugs hineinführte. Die kleinen Bugkammern, die rechts und links abzweigten, waren mit Abfallsäcken gefüllt und beherbergten zahlreiche Ratten, von denen einige durch die Lichtkegel ihrer Taschenlampen fiepend und quiekend aufgescheucht wurden. Auf einmal war es, als wären sie wirklich in eine Art Unterwelt hinab gestiegen und hätten Diamond am denkbar unmöglichsten Ort der Welt aufgespürt, um seine Seele wider Erwarten noch einmal zu den Lebenden zurückzurufen. Als sie am Ende des Ganges in die letzte Bugkammer hineinleuchteten, regte sich in Mos Herz etwas, was er in Bezug auf Tim Diamond niemals für möglich gehalten hätte. Der Moment, in dem er seinen alten Rivalen aus dieser unmöglichen Lage befreite, hätte einer seiner größten Triumphe werden können, aber statt einem Triumphgefühl konnte er jetzt nur Schmerz und Mitleid empfinden. Es schien eine unsägliche Ironie des Schicksals zu sein, dass es ausgerechnet ihm gelungen war, den alten Draufgänger Diamond, der ihm nie viel zugetraut hatte und ihn wegen seiner auf Intellekt und Intuition beruhenden Arbeitsweise immer verspottet hatte, in dieser Hölle aufzuspüren und aus ihr zu befreien.
Diamond lag auf einem Haufen Müllsäcke wie auf einem Totenbett und unter seinem zerfetzten Pullover waren überall kleine Wunden und Blutspuren zu sehen. Die fette Ratte, die eben noch an seiner mit klebrigen Abfallresten beschmutzen Jeans geschnüffelt hatte, verzog sich bei ihrem Kommen schnell und mit ihr einige Kleinere, die offenbar nur darauf warteten, dass das letzte Leben aus dem bereits wie tot herumliegenden Menschenkörper wich.
Jayden prüfte sofort den Puls der Halsschlagader und Mo benetzte das Gesicht des Halbtoten mit Wasser aus einer Plastikflasche. Die Reaktion darauf stellte sich nur sehr verzögert ein und bestand aus einem leisen Röcheln, das so klang, als hätten sie Diamonds Geist, der sich in irgendeinem undefinierbaren Zustand zwischen Leben und Tod befand, aus einer weiten Ferne wieder in die Gegenwart zurück geholt. Als er schließlich seine Augen aufschlug, vergrößerten sich beim Anblick von Mos Gesicht entsetzt seine Pupillen und er ließ seinen Kopf mit dumpfem Stöhnen auf den Müllsack zurücksinken. Er brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass die beiden unheimlichen Froschmänner in den schwarzen Gummianzügen, deren kleine LED-Taschenlampen den finsteren Ort in ein unwirkliches Licht tauchten, nicht etwa zu den Helfern des Fährmannes zählten, der im Hades dafür zuständig war, die Seelen der Toten über den Fluss Styx in die Unterwelt zu setzen, sondern zwei Abkömmlinge der diesseitigen Welt waren, die in den Abgrund hinunter gestiegen waren, um ihn zu retten.
Er fing an unverständliches Zeug vor sich hinzubrabbeln, und sie machten sich daran, ihn von seinem zerfetzen und bluttriefenden Pullover zu befreien. Erst dabei bemerkten sie das ganze Ausmaß seiner Verletzungen, die wie Folterspuren aussahen.
„Die Wunden sind noch frisch. Man hat sie ihm bestimmt erst vor kurzem zugefügt. Wahrscheinlich hat man ihn für einen Agenten gehalten und wollte um jeden Preis aus ihm herausbekommen, ob man in Washington bereits irgendetwas über das Schiff weiß“, vermutete Mo mit einem bestürzten Flüstern. Kurz darauf wurde eine rostige Schraube, die er in einer der vielen Wunden fand, zu dem eindeutigen Beweis für grausame Folter, weshalb er eine Reihe wilder Flüche ausstieß.
Jayden entledigte sich seines Gummianzuges und sie zwangen Diamonds massigen Körper zum Schutz seiner offenen Wunden mühsam in ihn hinein. Gerade als sie es geschafft hatten, den Reißverschluss über seinem stattlichen Bauch zu verschließen, begann er wieder irgendein unverständliches Zeug zu faseln.
„ Niemand kann sie noch aufhalten… niemand… die Bots… die Bots werden die Welt übernehmen… “, murmelte er immer wieder wie in einem Fiebertraum vor sich hin, bis er schließlich durch das Wasser, das Mo ihm vorsichtig in den Mund träufelte, verstummte und zu husten begann.
„Die Bots werden die Welt übernehmen?“, wiederholte Jayden. „Was zum Teufel meint er bloß damit!?“
„Na, die Roboter nehme ich an. Wer weiß, was er wirklich meint, aber vielleicht ist es nicht bloß Gefasel und macht irgendwie Sinn. Wenn wir Glück haben, überlebt er und kann es uns später erklären!“
Nachdem sie Mickey per Funk über alles informiert hatten, quälten sie sich zu dritt durch den schmalen, müllübersäten Gang zurück zu der Leiter und ließen Diamond langsam hinunter gleiten. Nach dem höllischen Gestank in den Bugkammern hauchte die frische Luft, die von oben durch den Treppenschacht herein zog, dem halb Bewusstlosen etwas mehr Leben ein. Er wog beim Erreichen der ersten, nach oben auf Deck führenden Treppenstufe bereits nicht mehr so schwer und schien mit jeder Stufe ein wenig mehr zu begreifen, wie sehr es für ihn ums nackte Überleben ging. Dennoch zog sich der Aufstieg aus der „Unter-“ in die „Oberwelt“ scheinbar endlos hin und strapazierte ihre Kräfte und Nerven so sehr, dass sie kurz vor ihrem Ziel erschöpft auf einem Treppenabsatz niedersanken.
Plötzlich hatte Mo hatte ein leises Brummen im Ohr, das sich immer mehr verstärkte. Als es irgendwann so laut und deutlich geworden war, dass es über seine wahre Ursache keinen Zweifel mehr gab, sprang er auf und rannte das letzte Stück der Treppe hinauf. Beim Öffnen der Eisentür schlug ihm ein lautes Dröhnen entgegen und nicht weit entfernt vor ihm blinkten Lichter im Nachthimmel auf, die von irgendeinem Flugobjekt stammten. Durch das Nachtsichtgerät konnte er die Umrisse eines großen Transporthubschraubers erkennen, der zwei beleuchtete Haken an Stahlseilen hinunterließ, um einen Container abzutransportieren.
Da am Horizont bereits ein erster, fahler Schimmer des Morgengrauens zu erkennen war, beeilte er sich zu den Anderen zurückzukehren. Sie verloren keine Zeit, den halb bewusstlosen Diamond wieder auf die Beine zu stellen und das letzte Stück der Treppe hoch zu schleppen. Oben angekommen war von dem Helikopter nichts mehr zu sehen und das ganze Deck tat sich in beruhigender Dunkelheit und Stille vor ihnen auf. Es wirkte fast, als hätte ihnen das Schicksal extra eine kurze Gnadenfrist vor dem Morgengrauen gewährt, um die letzten Maßnahmen für den erfolgreichen Abschluss der „Operation Bermuda“ einzuleiten.
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