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Einige Zeit später hatte sich die Situation dramatisch gewandelt. Ein nervtötender Pieplaut erfüllte unablässig die ganze Kajüte und ließ sich nicht abstellen, solange das Sonargerät eingeschaltet war. Er hatte schon seit Minuten eine gefährliche Nähe zu einem großen, schwimmenden Objekt angezeigt, ohne dass dieses schon zu sehen war. Während sich Jayden durch das Fiepen an das akustische Warnsignal in einem Flugzeug erinnerte fühlte, das den Piloten auf so überlebenswichtige Dinge wie etwa die Gefahr eines Strömungsabrisses durch zu niedrige Geschwindigkeit oder ein kurz vor der Landung noch nicht ausgefahrenes Fahrwerk hinwies, musste Mo in dem engen Bauch der „Star of Atlantis“ eher an ein U-Boot im Krieg denken, das in die gefährliche Nähe eines feindlichen Flottenverbandes geraten war. Der Torpedo, der ein solches U-Boot praktisch in jedem Moment hätte zerreißen können, wäre in ihrem Fall die mehrere Zoll dicke Stahlwand eines mächtigen Dampfers gewesen, die den schlanken Kunststoffrumpf der Yacht so mühelos durchschnitten hätte, wie ein frisch gewetztes Küchenmesser ein Stück weichen Käse. Die Daten, die das Sonar auf den letzten paar hundert Yards geliefert hatte, wiesen unmissverständlich auf ein Riesenschiff hin, dessen Besatzung in der Dunkelheit noch nicht einmal bemerkt hätte, wenn es zu so einem fatalen Seeunfall gekommen wäre.
Bei aller Gefahr hatte die Situation für Mo auch etwas Großes und Erhabenes an sich und so symbolisierte für ihn das laute Warnsignal und die rote Lampe, die in der Navigationsecke ständig nervös aufblinkte, das Zusammenspiel höherer, schicksalhafter Kräfte, die sich trotz ihrer intensiven Vorbereitungen nur sehr bedingt beherrschen ließen.
Mickey, der stramme Ex-Soldat und großmäulige Captain, der immer so hart und cool getan hatte, wirkte inzwischen erschreckend planlos auf sie und lief konfus in der Kajüte hin und her. Als sie sich dem unbekannten Schiff laut Instrumenten auf 400 Yards genähert hatten, fiel ihm erst unter lauten Flüchen wieder ein, dass der Gegenstand, den er lange vergeblich gesucht hatte und der gerade jetzt unerlässlich geworden war, in einem Schrank über der Kochnische lag: Das Fernglas mit integriertem Nachtsichtgerät. Im selben Moment wurde Mo von einer leichten Benommenheit befallen und ihm kam es so vor, als legte sich irgendein dichter, lähmender Schleier über die gesamte See, wofür es keinerlei rationale Erklärung gab. Als er sich von dem Kapitän das kostbare Utensil aushändigen ließ und mit Jayden das Deck betrat, glaubte er, er könnte die unheimliche Aura des fremden Schiffes bereits deutlich spüren, obwohl noch nichts zu sehen und zu hören war. Er lehnte sich über die Reling und ließ solange den Blick über die unruhige See schweifen, bis er in dem typisch grünlichen Schimmer des Nachtsichtgerätes einen riesigen Umriss wahrnahm, den er im ersten Moment einem gigantischen, tief über dem Meer hängenden Wolkengebilde zuschrieb. Erst als er das Gerät schärfer stellte, gingen ihm langsam die Augen auf und er stammelte ehrfürchtig:
„Ich glaube es ja nicht… hast du die Containerreihen gesehen? Das Ding ist nichts Anderes als ein riesiges Frachtschiff…“
Jayden riss ihm das Nachtsichtgerät aus der Hand, und als auch er den gigantischen Schiffsrumpf und die Container sah, schien ihn ein elektrisierender Strom in höchste Anspannung zu versetzen. Mo spürte noch immer die seltsame Benommenheit, die ihn bereits unter Deck befallen hatte, und flüsterte:
„Spürst du es nicht auch, Mann? Irgendetwas geht von diesem Schiff aus, eine merkwürdige Kraft, vielleicht eine Strahlung oder so etwas…“
Sein junger Partner hörte kaum hin und drängte ihn den Niedergang hinunter, um Mickey zu informieren und die Spezialausrüstung an Deck zu zerren. Wenig später hatte Mo bereits die vier schweren Magneten angelegt und sich Jayden das Seil mit einem Karabinerhaken um seine Taille geschnallt.
Dann herrschte plötzlich völlige Dunkelheit, da Mickey die Kajütenbeleuchtung ausschaltete, nachdem er schon zwei Stunden zuvor die Positionslichter gelöscht hatte. Er steuerte die „Star of Atlantis“ mit halber Kraft in einen Bogen nach Backbord hinein und begann die Entfernung zum Zielobjekt unaufhaltsam zu verringern. Mo beobachtete derweil durch das Nachtsichtgerät die linke, jetzt bloß noch 200 Yards entfernte Flanke des kolossalen Frachters und schätzte, dass er zu der so genannten „Panamax-Klasse“ zählen musste. Dabei handelte es sich um die Sorte von Containerschiffen, die die maximal zulässige Länge von rund 320 Yards und 35 Yards Breite meist voll ausschöpften, aber niemals überschritten, weil der Panamakanal vor seiner jüngsten Erweiterung keine größeren Schiffe zugelassen hatte. Die mächtige Bordwand, die schwarz und drohend in den nächtlichen Himmel aufragte, kam ihm wie ein unüberwindliches Hindernis vor, das nur durch gut trainierte Spezialeinheiten zu bezwingen war. Der Koloss hatte auffällig wenige Positionslampen gesetzt und die kleine Zahl der übrigen Lichter, die inzwischen deutlich mit bloßem Auge zu erkennen waren, ließ auf eine großenteils schlafende Besatzung schließen.
Der nach dem Abflauen des Sturmes stetig geringer gewordene Wellengang und die starke Bewölkung, die so gut wie kein Mond- und Sternenlicht hindurch ließ, ergaben ideale Bedingungen, weshalb es keinen Grund gab, unnötig lange um das Ziel zu kreuzen und den Entergang künstlich zu verzögern. Mickey war inzwischen an Deck gekommen und hatte die Schleife der „Star of Atlantis“ zu Ende gezogen, so dass sie sich bald kaum noch 50 Yards hinter dem Frachter befanden und mit voller Maschinenkraft gegen die hoch aufschäumenden Wellen in dessen Fahrwasser ansteuerten. Als Mo den weißen Schriftzug am Heck entziffern konnte, bekam der Name „Conqueror of the Seas“ in dem milchigen Grün des Nachtsichtgerätes eine besonders bedrohliche Note; die Aura von unheimlicher Erhabenheit, die den gigantischen, schwarzen Rumpf mit seinem wie ein Hochhaus in den Himmel ragenden Decksaufbau umgab, schien das Schwarz des Himmels und der See noch finsterer zu machen und alles in eine Erwartung von Gefahr und Verderb zu tauchen.
Plötzlich startete Mickey eine psychologische Spezialbehandlung, die er sich absichtlich für die letzten Minuten aufgehoben hatte. In dem Moment, als sie sich bereits nahe der Stelle im hinteren Bereich der linken Bordwand befanden, an der sie andocken wollten, brach auf einmal etwas extrem Kämpferisches und Aggressives aus dem Ex-Soldaten hervor. Es konnte nur mit der Erfahrung realer Kriegseinsätze zusammenhängen, die tiefe, untilgbare Spuren in seinem Charakter hinterlassen und ihn für den Rest seiner Tage zu einem harten Hund gemacht hatten.
„ALSO WAS IST JUNGS !?“, brüllte er sie mit äußerster Lautstärke wie ein Drill Instructor an. „Wollt ihr den verfluchten Kahn entern oder nicht? Ihr geht jetzt da rauf und nichts und niemand im ganzen Universum wird euch aufhalten!“
Für Jayden hatte das Geschrei keine Bedeutung, da er ohnehin längst damit beschäftigt war, die ihm zugedachte Aufgabe auszuführen: Er schnallte sich das Nachtsichtgerät auf den Kopf, spannte die Armbrust und wartete einen günstigen Augenblick zwischen zwei Wellen ab, damit ihm ein exakter Abschuss des Enterhakens gelang. Als er den Auslöser betätigte und der Haken vor der etwa 16 Yards hohen Bordwand in den Himmel schoss, war sein lautloser und unsichtbarer Aufprall auf Deck lediglich durch einen leichten Ruck im Seil zu spüren. Bald darauf fing Mickeys martialisches Gebrüll wieder an.
„WEN IMMER IHR DA OBEN ANTREFFEN WERDET, JUNGS, REISST IHNEN MÄCHTIG DEN ARSCH AUF!
Ihr seid Maschinen, versteht ihr? Keine weichen, ängstlichen Menschen aus Fleisch und Blut, sondern gut geölte Kriegsmaschinen, die niemand aufhalten kann! Keine Gefühle, keine Schwäche, nur ein gnadenloses Programm, das genau nach Plan abläuft! Ihr werdet da wie ein Kampfroboter rauf gehen und wer sich eurer Maschinenkraft in den Weg stellt, wird rücksichtslos niedergemacht! Ihr werdet jetzt den alten Tim Diamond da raus holen! Ich spüre, dass er in Schwierigkeiten steckt und dringend unsere Hilfe braucht! Und falls irgendetwas nicht nach Plan verläuft, dann wird die Maschine eben neu programmiert und auf ein neues Ziel eingestellt! Kalt, schnell und flexibel muss die ideale Kampfmaschine sein! Zur Not sprengt ihr das ganze verfluchte…“
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