Er schnaubte verächtlich und stand auf, um sich seine schwarze Lederjacke auszuziehen und sich ein blaues, zerknautschtes Seemannskäppi auf seinen kahl rasierten Schädel zu setzen, das er zufällig auf einem Regal über der Sitzecke fand. Durch das Käppi und den grob gestrickten Pullover, der unter der Jacke zum Vorschein kam, hatte er innerhalb weniger Sekunden eine überzeugende Wandlung von einer „Landratte“ zu einem „Seebären“ vollzogen und seiner Erscheinung einen völlig neuen Charakter verliehen.
„Und wie werden wir genau vorgehen, wenn wir Punkt X erreicht haben? Es würde mich nicht wundern, wenn dein Plan nicht ganz mit dem von Betty übereinstimmen würde“, bemerkte Mo mit einem leicht provokanten Unterton, der den launischen Captain sofort auf die Palme trieb.
„Wie? Warum sollte denn mein Plan nicht mit dem von Betty übereinstimmen sollen? Ich will euch jetzt mal was ganz Grundsätzliches sagen, damit ihr mich nicht etwa für ein Weichei haltet: Mir schmeckt es absolut nicht, euch Vögel alleine auf das Schiff gehen zu lassen, aber Betty besteht darauf, weil einer unbedingt auf der Jacht bleiben muss. Da ihr sie nicht zuverlässig manövrieren könnt, muss ich es eben sein. Wenn es allerdings um Tims und euer Leben geht und ihr mich braucht, könnt ihr mich anfunken, dann komme ich an Bord und pfeife auf unser Boot. Das wäre die harte Tour, denn für den Rückweg müssten wir uns dann wirklich etwas einfallen lassen…“
„Aber wie sollen wir überhaupt auf das Schiff gelangen?“, knüpfte Mo mit anderen Worten wieder an seine erste Frage an.
„Nur Geduld, das klärt sich alles später. Damit es zu keiner Meuterei kommt, erzähle ich euch das besser erst, kurz bevor wir Punkt X erreicht haben. Im Moment gibt’s nicht viel zu tun, also kriecht ihr jetzt am besten in die Koje, damit ihr morgen früh fit genug zum Segelsetzen seid. Ich werde die erste Nachtwache bis 2 Uhr übernehmen und danach Jayden als Ersten aufwecken. Von mir aus könnt ihr euch zusammen in die große Vorschiffskajüte verziehen. Ich bin nicht schwul und ich schnarche, daher kann ich es unter diesen Umständen am besten alleine aushalten, he, he, he…“
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70 Stunden, nachdem die „Star of Atlantis“ in der Bannister Bay in See gestochen war, lag Mo mit kreidebleichem Gesicht in seiner Koje und versuchte, sich zur Ablenkung krampfhaft auf den Bildschirm eines kleinen DVD-Gerätes über der Kajütentür zu konzentrieren. Er konnte der Handlung des laufenden Filmes nicht im Geringsten folgen und als in einer Szene plötzlich ein gedeckter Tisch voller Speisen zu sehen war, befiel ihn wieder das große Würgen. Obwohl sein Magen längst leer war, beugte er sich zum x-ten Mal zu dem Eimer neben seiner Koje hinunter und verfluchte stöhnend und spuckend die gesamte Seefahrt. Während er mit der rechten Hand den Eimer festhielt und sich mit der linken Hand an den Bettrahmen klammerte, damit ihn der gewaltige Wellengang nicht auf den Boden schleuderte, presste er mit den Beinen die Flasche Whisky fest auf die Matratze, die er sich unter seine Kniekehlen geklemmt hatte. Als eine günstige Gelegenheit kam und die Yacht nach einer heftigen Erschütterung durch ein längeres Wellental glitt, ließ er kurz den Bettrahmen los und schnappte sich schnell die Flasche, um durch einen tiefen Schluck die brennende Magensäure aus seinem Mund zu spülen. Er wollte sich schon wieder zurücklehnen, um wenigstens für ein paar Sekunden zu entspannen, doch da öffnete sich die Kajütentür. Jayden trat mit einem zynischen Grinsen herein, hielt den erbärmlichen Zustand seines Partners mit der Kamera seines Smartphones fest und verschwand sofort wieder. Er konnte nicht schnell genug dagegen protestieren und ahnte bereits, dass dieses Foto eines Tages in irgendeiner Runde Anlass zu allgemeiner Erheiterung werden würde.
Er hatte die ganze Zeit nichts davon mitbekommen, wie Jayden fieberhaft damit beschäftigt gewesen war, die Wassermengen vom Boden des Salons aufzuwischen, die mehrmals über den Niedergang in die Kajüte gespült worden waren, und wie Mickey über zwei Stunden lang draußen am Ruder gegen das Meer gekämpft hatte, indem er mit voller Maschinenkraft gegen den Wind und die monströsen Wellen angesteuert hatte. Als die See nach Anbruch der Dunkelheit endlich ruhiger wurde, goss er nach und nach den letzten Rest des Whiskys in sich hinein und spürte voller Befriedigung, wie sich eine wohlige Wärme in ihm ausbreitete und die Übelkeit langsam verdrängte. Das Schicksal ließ ihm nur wenig Zeit, die Genesung von der Seekrankheit zu genießen, da gegen Mitternacht Mickey in die Kajüte hineingepoltert kam und lautstark rief:
„Ich habe eben mit Betty über Funk gesprochen! Nach ihren Berechnungen könnte es zwischen 3 und 4 Uhr soweit sein! Du musst wieder klarkommen, Mann! Vielleicht haben wir heute Nacht unsere einzige Chance. Am besten leistest du deinen Kumpel auf Deck Gesellschaft und schnappst frische Luft. Im Gegensatz zu dir hat er sich inzwischen zu einem echten Seemann gemausert, dem man getrost das Ruder überlassen kann!“
Mo schlüpfte hastig in seinen Pullover und seine Wetterjacke und folgte der Anweisung des „Captains“ zum Frischlufttanken an Deck zu gehen. Draußen empfing ihn als Relikt des Sturmes ein mächtig pfeifender Wind, der nach drei sonnigen Tagen auf See eine unangenehme Kälte mit sich brachte und die „Star of Atlantis“ mit beängstigender Seitenneigung und einer Geschwindigkeit von knapp 7 Knoten immer tiefer in die Gefahrenzone hineintrieb. Jayden hatte sich in der kurzen Zeit gute Segelkenntnisse angeeignet und schien trotz der stetig näher rückenden Gefahren, der Dunkelheit und des rauen Wetters seine helle Freude an dem Steuern der Yacht zu haben. Er steckte in einer gelben Wetterjacke und hatte sich an der Bordwand angeleint, damit er sich bequem in das Seil hineinlehnen konnte. Mo klammerte sich neben ihn an die Reling und kämpfte tapfer gegen die letzten Wehen der Seekrankheit an. Von den erhabenen Gefühlen, die ihn während der letzten Tage immer dann übermannt hatten, wenn sich die „Star of Atlantis“ bei einer steifen Brise extrem in die See gelehnt und sich mit stolzem Heben und Neigen des spitzen Rumpfes ihren Weg durch die unendliche Weite des Atlantiks erkämpft hatte, war unter diesen Umständen nicht mehr viel zu spüren. Jayden schrie ihm ein paar Worte direkt ins Ohr, doch er verstand ihn nicht. Das Getöse der Wellen und das Pfeifen des Windes unterband jegliche Unterhaltung und ließ sie nur noch zu kleinen und stummen Zeugen der mächtigen Naturgewalten werden.
Als nach einiger Zeit die Klappe zur Kajüte aufging und Mickey seinen Kopf herausstreckte, kündigte sich endgültig die heiße Phase ihres Abenteuers an.
„Ich habe auf dem Sonar ein Signal erwischt, etwa fünfzehn Meilen von hier! Streicht die Segel und kommt unter Deck! Wir werden die Maschine anwerfen und den Autopiloten einschalten!“, rief er aufgeregt und winkte sie herein.
Nachdem sie das Hauptsegel eingeholt hatten, schlüpften sie in die Kajüte, wo ihnen der penetrante Geruch einer von Mickey zubereiteten Konservensuppe entgegenschlug. So rau das Verhalten ihres schrägen Captains oft war, so zuverlässig kümmerte er sich auch um sie, fast so als hätte er Betty einen heimlichen Schwur geleistet, durch den er sich für die Sorge um ihr Wohlergehen verpflichtet hatte.
„Das Sonar hat ein starkes Signal gegeben, was bei dieser Entfernung für ein Riesenschiff spricht“, klärte er sie mit ernster Miene auf, während sie sich in der engen Schiffsmesse niederließen. Trotz der rapide ansteigenden Spannung hatten sie zunächst nichts Wichtigeres zu tun, als sich von ihm Kartoffelsuppe und Brot servieren zu lassen. Während sie den geschmacklosen Fraß, der ein wenig an eine Henkersmahlzeit erinnerte, missmutig in sich hineinlöffelten, fummelte Mickey an den Geräten in der Navigationsecke herum. Schließlich gab er ihnen mit knapper, militärisch klingender Sprache einen kurzen Lagebericht ab.
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