New York Correction Facility
# 35784409
Heart, Dr. Desmond
Das Datum seines Haftantritts war auch noch auf der Tafel vermerkt. Sera staunte. Er saß bereits seit dreieinhalb Jahren hier. Wie lange würde er noch hier sein? Noch brennender interessierte sie aber das Warum. Sie las das Dokument. Insassennummer, Name und Datum der Inhaftierung übersprang sie. Das Foto hatte ihr diese Information bereits preisgegeben. Das Geburtsdatum verriet ihr, dass er 35 Jahre alt war und somit vier Jahre älter als sie. Geboren war er in New York City. Unter Alias war sein Spitzname, unter dem er im Knast bekannt war eingetragen: Doc. Sie fand es immer noch überaus passend! Nun kam sie zum spannenden Teil der Daten der Verurteilung. Er hatte eine Haftstrafe von insgesamt sechs Jahren bekommen und zwar wegen… Mord!
Sera war schockiert. Er war ein Mörder! Sie hörte den Nachtdienst draußen im Flur. Abrupt schloss sie das Programm und machte den Computer aus.
Heart lag bäuchlings auf dem harten Bett seiner Isolationszelle. Er starrte teilnahmslos auf die Kloschüssel, die sich nur einen halben Meter vor ihm an der Wand befand. Mehr gab es in Einzelhaft nicht. Ein Bett, ein Klo und die unerträgliche Einsamkeit. Er konnte nicht einmal aus dem Fenster schauen, weil es hier nur einen schmalen Spalt unterhalb der Decke gab, der die Zelle bei Tageslicht gerade ausreichend erhellte. Um diese Jahreszeit verbrachte man hier jedoch die meiste Zeit im Dunkeln.
Heart wusste nicht, wie viel Uhr es gerade war. Im sogenannten Loch gab es weder Freigang noch Arbeitszeiten. Das Einzige, an was er sich orientieren konnte, waren die Mahlzeiten, die ihm drei Mal täglich durch die Türklappe geschoben wurden. Er schubste mit seiner Hand die Blechschüssel an, die neben seinem Bett auf dem Boden stand und tauchte einen Finger hinein, den er danach gelangweilt begutachtete. Ach ja, das war das Frühstück gewesen. Es musste also irgendwann zwischen 6 und 12 Uhr sein. Er leckte die matschige Substanz von seinem Finger und ließ den Arm wieder herunter hängen. Wie viele Portionen Haferflocken hatte er bereits hinter sich? Er wusste es nicht mehr. Es war ihm auch egal. Wenigstens variierte das Mittagessen in Einzelhaft. Was würden sie ihm heute wohl bringen? Was auch immer es sein würde, es würde ihm sowieso nicht schmecken. Gab es nicht irgendwo einen Sternekoch, der gerne mal im Gefängnis die Insassen mit einem feinen Rumpsteak, einem leckeren Hummer oder ähnlichem beglücken wollte? Bei dem Gedanken bekam er Hunger. Er sollte lieber wieder an was anderes denken. Welche Ideen spukten ihm davor im Kopf herum? Ach ja richtig, nichts! Er fühlte sich nur müde und leer. Er brauchte dringend Abwechslung!
Er hörte ein metallenes Geräusch, das seine innere Leere erst nicht zuordnen konnte. Die Tür öffnete sich. Ein Uniformierter trat ein und grüßte den Häftling, erhielt aber keine Antwort.
„Hey Doc, lebst du noch?“ Der Wachmann trat gegen das Bettgestellt, weil sich Heart nicht gerührt hatte.
Endlich erhob er sich schwerfällig. Er blieb am Bettrand sitzen und streckte sich. Seine Knochen fühlten sich steif an, als hätte er einen hundertjährigen Winterschlaf beendet. Er rieb sich die Müdigkeit aus seinem Gesicht, dann blinzelte er den Beamten an. Es war Randy Johnson. Wenigstens einer, den er mochte, dachte Heart. Die meisten Aufseher spielten sich als überlegene, oft sadistische Arschlöcher auf, Johnson aber nicht. Er behandelte die Häftlinge mit dem nötigen Respekt. Er war okay.
„Du siehst echt scheiße aus“, bemitleidete Johnson ihn.
Heart stand auf. Dabei knackten einige Knochen in seinem Körper so heftig, dass er laut stöhnte.
„Fuck! Lieg du mal zwei Wochen hier rum, dann will ich sehen wie beschissen du aussiehst. Es waren doch jetzt zwei Wochen oder?“ Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er wusste nicht einmal, welcher Tag heute war.
„Du hast es überstanden“, lächelte der Wachmann.
Johnson klopfte Heart aufmunternd auf die Schulter. Gemeinsam gingen sie den Flur entlang, in Richtung Zellentrakt. Heart war neugierig, warum Ferguson ihn nicht abgeholt hatte. Normalerweise entließ er doch persönlich alle aus der Einzelhaft, um sie noch einmal über ihre Missetaten zu belehren.
„Ferguson hat heute wichtigeres zu tun“, klärte ihn Johnson auf. „Du musst also mit mir Vorlieb nehmen.“
„Was gibt es denn wichtigeres als mich?“, witzelte Heart.
So langsam hob sich seine Stimmung. Oh wie sehr hatte er das süße Wechseln von Wörtern, an eine nicht eingebildete Person, vermisst. In den letzten beiden Wochen hatte er viel Selbstgespräche geführt, die oft im Streit mit sich selbst geendet hatten, weil ihm nicht gefiel, was er sich selbst zu sagen hatte. Er konnte gut verstehen, warum er so oft als Arschloch bezeichnet wurde. Manchmal gab er wirklich gemeine Sachen von sich!
„Mord“, sprach Johnson ernst. Heart blickte ihn überrascht an. „Oder Selbstmord. Das muss noch geklärt werden“, fügte der Wachmann schnell hinzu.
Er erzählte ihm, dass ein Häftling an diesem Morgen nicht zu seiner Arbeit erschienen war und sie ihn dann in seiner Zelle erhängt vorfanden.
Auf dem Weg durch den Zellentrakt, kamen sie an einer Zelle vorbei, in der sich die Spurensicherung der Polizei drängte. Dort war es also geschehen. Er sah Ferguson, wie er mit einem Polizeibeamten sprach. Bedauerlicherweise gab es so etwas hin und wieder. Selbst Heart hatte schon mal, seit er hier gewesen war, über Selbstmord nachgedacht und hätte er nicht verdammt noch mal so viel Angst vorm Sterben, würde er sich bestimmt nicht mehr hier rumquälen.
Johnson brachte Heart zu seiner Zelle, wo er sich frische Kleidung aus dem Schrank nahm. Dann brachte er ihn in den Waschraum. An der Eingangstür blieb Heart abrupt stehen, den Blick auf die sauberen Fliesen gerichtet. Für einen Augenblick sah er wieder das ganze Blut über dem Boden verteilt. Er schüttelte den Gedanken von sich und duschte ausgiebig, während Johnson am Eingang auf ihn wartete. Nachdem er sich saubere Klamotten angezogen hatte, wurde er wieder zurück in seine Zelle gebracht. Irgendwas schien anders. Erst jetzt fiel Heart auf, dass sein Zimmer so leer aussah. Nachdenklich schaute er sich um. Da fehlten ein paar Bücher auf dem Wandregal und an einem der Spinde fehlten die persönlichen Fotos und Postkarten, die sonst immer zu sehen waren. Auf dem unteren Bett fehlte die Bettwäsche.
„Green wurde Gestern entlassen“, klärte Johnson ihn auf, der Hearts Verwunderung bemerkt hatte.
Da fiel es Heart wieder ein. Green war die letzten knapp zwei Jahre sein Zellengenosse gewesen. Er hatte ganz vergessen, dass er nächste Woche entlassen werden sollte, oder war es letzte Woche? Die Woche davor? Sein Zeitgefühl hatte Heart noch nicht wieder erlangt. Egal. Scheiß drauf. Green und er hatten sich zwar immer verstanden, aber Freunde waren sie, in der langen Zeit, nie wirklich geworden. Eine Abschiedsparty hätte es sowieso nicht gegeben.
„In fünf Minuten gibt’s Mittagessen.“ Mit diesen Worten lies Johnson ihn alleine zurück.
Heart ging ans Fenster und kippte es durch die Gitterstäbe. Sofort strömte kalte Luft ins Zimmer, die er tief einatmete. Das hatte er unten im Loch ebenso vermisst wie vieles andere. Er fuhr sich mit der Hand durch die noch feuchten Haare und kratze sich an seinem Vollbart. Er überlegte kurz, ob er ihn vielleicht behalten sollte. Nein, entschied er. Es erinnerte ihn nur an die letzten Wochen. Außerdem hätte er ja sonst auch keinen Grund mehr, bei dem Barbier vorbeizuschauen, der drei Mal in der Woche im Gefängnis arbeitete. Er war um jede Abwechslung dankbar.
Durch die Lautsprecher ertönte eine Glocke, das Zeichen zur Mittagsstunde. Heart machte sich auf den Weg. Der Speisesaal füllte sich schnell. Nachdem Heart seine Ration Eintopf abgeholt hatte, setzte er sich an einen noch freien Tisch. Kaum hatte er sich hingesetzt, legte sich eine große Hand auf seine Schulter.
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