Tom nickte.
„Fuck! Sag mal, ziehst du Ärger an dich wie Scheiße die Fliegen?“
„Ich kann doch nichts dafür“, verteidigte sich Tom.
„Muss ich mir jetzt um meine eigene Gesundheit sorgen machen?“
Heart legte seinen Kopf schief und betrachtete intensiv seinen neuen Mitbewohner. Mit seinen dunklen Haaren konnte Tom durchaus einem Unglücksraben ähnlich sehen. Zum Glück glaubte Heart jedoch nicht an solch Aberglauben. Dennoch war er etwas verärgert, ausgerechnet diesen schüchternen, hilflosen Knaben zugewiesen bekommen zu haben. Er brauchte niemandem zum Babysitten.
„Du schläfst da unten.“ Heart zeigte mit dem Finger auf das untere des Hochbettes.
„Okay.“
Tom war nicht sehr begeistert. Schon wieder musste er sich mit dem unteren begnügen, in dem er sich so eingeengt fühlte. Er hoffte, dass wenigstens der Doc nicht so laut schnarchte und sich so oft im Schlaf drehte, wie Burt es immer getan hatte.
„Welcher ist mein Schrank?“, fragte er Heart, der ihn zurückgelehnt mit verschränkten Armen anschaute.
„Der freie“, gab Heart gehässig von sich.
Na toll, dachte Tom und wählte zögernd den rechten der beiden aus. Glück gehabt! Es war der leere. Er verstaute seine Kleidung darin und bezog dann sein neues Bett. Nach getaner Arbeit drehte er sich wieder zu Heart, der ihn unverändert beobachtete. Tom bemerkte, die Kaffeemaschine auf dem kleinen Tisch. So etwas gab es in Burts Zelle nicht.
„Du hast eine Kaffeemaschine. Cool.“ Tom zeigte begeistert darauf und trat einen Schritt näher heran.
„Das ist meine. Also Finger weg!“ Es lag ein bedrohlicher Unterton in Hearts Stimme.
Wenn es um seinen geliebten Kaffee ging, verstand er keinen Spaß. Es hatte ihn auch Mühe und Zeit gekostet, bis er die Anschaffung des Vollautomaten genehmigt bekommen hatte. Sie war sein Heiligtum, an diesem dunklen Ort und er hütete sie wie sein Augapfel.
Tom kratzte sich unsicher am Kopf. Würde es genauso laufen, wie mit Burt? Bisher war Heart nicht sehr freundlich ihm gegenüber gewesen. Der Empfang von Burt damals in dessen Zelle war nicht viel kälter gewesen. Niedergeschlagen setzte er sich auf sein Bett, den Blick zum Boden gewandt.
Heart hatte ein kurzes Aufblitzen von Mitleid, doch er zeigte keine Reue. Besser der Junge lernte von ihm, wie es hinter Gittern zuging als von manch anderen, wie zum Beispiel die Schläger, die ihn vergewaltigen wollten. Er zog sein Buch wieder zu sich heran, schlug es auf und begann endlich zu lesen. Wie gern hätte er die Möglichkeit gehabt, während seiner Isolationshaft ein paar Bücher zu lesen. Die Zeit verging beim Lesen wie im Fluge. Nachdem er die erste Seite gelesen hatte, spürte er Toms Blick auf sich ruhen. Er schlug die Seite um.
„Hör auf mich anzustarren“, knurrte er, ohne von dem Buch aufzuschauen.
Tom legte sich seufzend hin und starrte auf das Bettgestell über ihm. So lag er wach da, bis Heart irgendwann das Licht löschte und sich auch in sein Bett legte. Draußen war es schon lange dunkel gewesen. Beide schliefen schnell ein und Tom verbrachte seine erste Nacht seit langem, in der er weder durch Schnarchen noch lautes Quietschen der Bettfedern geweckt wurde.
Tom wurde unsanft aus seinem Schlaf gerissen. Der Weckruf schrillte in seinen Ohren. Es war das erste Mal, dass er bis 6 Uhr durchgeschlafen hatte. Über ihm vernahm er ein müdes Brummen. Das Bettgestellt wackelte kurz, dann baumelten ein Paar Beine von oben herunter.
Heart sprang zu Boden, streckte und rieb sich den Schlaf aus seinem Gesicht. Er stützte sich auf den Tisch und schaltete müde seine Kaffeemaschine ein. Nachdem er seine Morgentoilette erledigt hatte, zog er sich um. Tom stand nun auch endlich auf und folgte seinem Beispiel. Als der Wärter die Frühstückstabletts durch die Klappe schob, nahm Heart beide entgegen und stellte sie auf dem Tisch ab. Heart freute sich über die zwei Scheiben Brot, Käse und Wurst. Das erste Mal seit zwei Wochen, in denen er keinen Haferbrei vorgesetzt bekam. Während er sein Frühstück mit frischem Kaffee am Tisch genoss, nahm Tom sein Tablett und setzte sich wie gewohnt damit auf sein Bett. Er war gerade mit seinem Essen fertig, als auch schon der Aufseher die Tür aufmachte, um ihn mit in die Krankenstation für seine Insulinspritze zu nehmen. Morgens bekam er sie nach dem Essen, abends davor.
Sera freute sich wie immer, ihn zu sehen. Während sie erst einmal schnell seine Narbe eincremte, erzählte ihr Tom, was mit Burt geschehen war. Sie war schockiert, doch Dr. Hillsborough erklärte ihr, dass es mehrere Todesfälle im Jahr in diesem Gefängnis gab. Sera wurde von Tag zu Tag mehr bewusst, auf was sie sich eingelassen hatte. Mittlerweile hatte sie schon eine ganze Menge Wunden und Blutergüsse von Prügeleien behandeln müssen. Das Schlimmste bisher war jedoch Toms Vorfall gewesen. Sie war immer noch überaus dankbar, dass er es überlebt hatte.
„Jedenfalls musste ich aus meiner alten Zelle ausziehen und nun rate mal, wer mein neuer Mitbewohner ist“, forderte Tom sie auf.
Sera zuckte mit den Schultern. Sie hatte keine Ahnung. So gut kannte sie die Häftlinge nun auch nicht und Tom hatte bisher keine wirklichen Freundschaften geschlossen. Zumindest hatte er ihr nie etwas erzählt. Er hatte jedenfalls ihre Neugier geweckt.
„ Doc, der mir das Leben gerettet hat“, verriet Tom.
„Mein herzliches Beileid“, meldete sich Dr. Hillsborough aus dem Hintergrund.
„Das ist ja ein Zufall“, Sera war sichtlich erstaunt. „Wie kommt das denn?“
„Sein alter Mitbewohner ist wohl entlassen worden und somit war ein Bett frei“, erklärte Tom.
Sera nickte gedankenvertieft. Wirklich ein Zufall. Vor ihrem geistigen Auge erschien das Bild von Heart, das sie in seiner elektronischen Akte gesehen hatte. Ein feiner Anzug, verwuschelte Haare, hypnotisierende blaue Augen, die sie anstarrten. Sie schüttelte den Gedanken fort. Aber wie war er wohl, dieser Doc? War er so gefährlich, wie es in seiner Strafakte stand? Sie hatte ihn nur ein Mal bisher gesehen und da war sie nicht schlau aus ihm geworden. Er war ein wenig aggressiv, selbstgefällig und gemein gewesen. Er hatte aber auch eine Ernsthaftigkeit verbunden mit einer gewissen Traurigkeit. Vielleicht lag es alles nur an der Situation. An jenem Tag war er in einem Kampf verwickelt gewesen, hatte Toms Leben gerettet und wurde danach zur Strafe weggesperrt, was in ihren Augen ungerechtfertigt gewesen war. Da konnten die Emotionen schon mal verrückt spielen. Sie hoffte, dass er nett genug war, damit sich Tom in seiner Zelle endlich ein wenig wohlfühlen konnte.
„Und wie ist er so?“, fragte sie, ohne es wirklich gewollt zu haben.
Woher kam nur ihre Neugier? Fühlte sie sich mit ihm in irgend einer Weise verbunden, weil er Tom geholfen hatte? Sie wusste es selber nicht. Immerhin ging es hier um einen verurteilten Mörder! Sofort war ihr die Frage peinlich.
„Naja, besonders nett war er nicht gerade. Aber wir haben auch nicht viel miteinander gesprochen“, gestand Tom betrübt.
Sera schenkte ihm ein mitfühlendes Lächeln. Er war zu liebenswert für diesen grausamen Ort. Er wusste nicht, wie er mit diesen ganzen Straftätern umgehen sollte. Sie hoffte, er würde es bis zum Ende seiner Haftzeit durchstehen und wer weiß, vielleicht hatte er sogar die Chance auf eine vorzeitige Entlassung. Sie wünschte es ihm von ganzem Herzen.
„Schlimmer als Burt kann er ja kaum sein“, versuchte Sera ihn aufzumuntern. „Und du bist ein wunderbarer Mensch. Wenn er das erst einmal erkannt hat, werdet ihr sicher gut miteinander auskommen.“
„Ja klar“, lachte Tom ungläubig, obwohl er es sich wünschte.
In den wenigen Minuten am Tag, in denen er bei Sera sein durfte, fühlte er sich nicht so alleine. Zwar war er ständig in Gesellschaft von anderen, doch innerlich fühlte er sich mutterseelenallein. Er fürchtete, aus Einsamkeit irgendwann in eine schwere Depression zu versinken.
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