„So ist’s brav“, triumphierten seine Angreifer.
Einer wollte sich wieder eilig an Toms Hose zu schaffen machen, als er zwei Gestalten verschwommen im Türrahmen erkannte. Wie aus weiter Ferne hörte Tom eine tiefe, ruhige Stimme rufen.
„Lasst den Kleinen in Ruhe, ihr Schweine!“
Kampfgebrüll brach aus. Die beiden Männer stürzten sich auf die drei anderen und schnell floss mehr als nur Toms Blut. Einer der vermeintlichen Vergewaltiger hatte ein selbstgebasteltes Messer bei sich, welches er in Notfällen nur all zu gerne benutze. Tom wollte aufstehen und seinen Rettern bei Seite stehen, aber er hatte nicht die Kraft dazu. Er fing an zu röcheln. Sein Hals schien anzuschwellen als hätte er einen Golfball verschluckt, der ihm nun im Halse stecken geblieben war. Oh Gott! Todesangst machte sich in ihm breit.
„Scheiße er erstickt“, bemerkte einer der Kämpfer.
Bevor sie sich versahen, rannten die drei Bösewichte davon. Sie hatten keine Lust, mit einem Mord in Verbindung gebracht zu werden. Erst nachdem die drei geflüchtet waren, erkannte Tom seine Retter wieder. Es waren der große Riese und Doc. Sie knieten sich beide neben ihn und Doc tastete seinen Hals ab.
„Sein Kehlkopf ist angeschwollen“, diagnostizierte er.
„Ich hole die Wache, er muss auf die Krankenstation“, sprach der Riese.
„Dazu bleibt keine Zeit. Hilf’ mir ihn festzuhalten!“
Doc schaute sich um und entdeckte das kleine Messer, welches der Vergewaltiger während dem Kampf verloren hatte. Schnell hob er es auf. Tom konnte die kühle Klinge auf seiner Haut spüren. Sein Kopf wurde nach hinten gebeugt. Dann tastete Doc nochmals den Hals ab, um genau die richtige Stelle zwischen dem Ring- und Schildknorpel zu finden. Er schnitt ohne zu zögern in das Fleisch. Die Klinge war relativ stumpf, weshalb er viel Kraft aufwenden musste, dabei jedoch immer noch vorsichtig sein musste, um nicht zu tief zu schneiden. Ein schrecklicher Schmerz zog sich durch Toms gesamten Körper. Er begann sie instinktiv gegen die Gewalteinwirkung zu wehren, doch der schwarze Muskelprotz hielt in fest. Tom fühlte das warme Blut aus seinem Hals strömen. Am liebsten hätte er den Schmerz weggeschrien doch er brachte nach wie vor keinen Ton heraus. Doc drehte vorsichtig das Messer, so dass eine kleine Öffnung entstand. Mit einem Handtuch versuchte er, die Schnittstelle vom vielen Blut offen zu halten. Tom spürte wie seine Lungen sich wieder mit Luft füllten. Er hatte weiterhin das Gefühl zu wenig Sauerstoff zu bekommen, aber die akute Erstickungsgefahr schien erst mal vorbei zu sein. Der Schmerz ließ ein wenig nach. Er stand wohl unter Schock.
„Jetzt kannst du Dr. Hillsborough holen. Sag ihm, er soll einen Endotrachealtubus und ein Beatmungsgerät mitbringen“, gab Doc zufrieden von sich.
„Ein was?“
„Einen Tubus und ein Beatmungsgerät“, Doc rollte verständnislos mit den Augen. „ Sag ihm einfach, hier erstickt einer. Nun renn schon!“
Mit einem Satz sprang sein großer Assistent auf und raste davon. Doc schaute ihm mit einer hochgezogenen Augenbraue anerkennend nach.
„Ganz schön schnell“, sprach er beeindruckt und wandte sich an Tom. „Hätte ich von Eddie gar nicht erwartet. Bei seiner Größe und Umfang. Respekt.“
Ich sterbe hier, versuchte ihn Tom mit weit aufgerissenen Augen mitzuteilen.
„Keine Angst, ich lasse dich nicht sterben“, sagte Doc als hätte er seine Gedanken gehört. „Jedenfalls heute nicht“, ergänzte er mit einem geheimnisvollen Grinsen.
Bevor sich Tom deswegen Sorgen machen konnte, eilten zwei Aufseher zur Tür herein. Vor ihnen auf dem gefliesten hellgrauen Boden lag ein blutüberströmter Häftling. Über ihm beugte sich ein anderer, der noch das Messer festhielt, das dem Opfer im Hals steckte. Hastig zogen sie ihre Schlagstöcke aus dem Gürtel. Die Situation schien ihnen eindeutig.
„Weg von ihm!“, brüllte einer.
„Fallen lassen! Du willst ihn doch nicht umbringen!“, rief der andere.
„Scheiße, ich habe ihm das Leben gerettet“, verteidigte sich Doc mit einer unglaublichen Ruhe.
„Lass das Messer fallen!“
„Kann ich nicht, sonst stirbt er“, wurde Doc langsam lauter.
„Wir können das auf die harte Tour machen, wenn du unbedingt willst!“
„Lieber nicht“, schüttelte Doc den Kopf.
„Dann lass das verdammte Messer fallen und entferne dich von ihm!“
„Nein“, seufzte Doc, dem die Begriffsstutzigkeit der Aufseher langsam auf die Nerven ging.
Toms Blick wanderte bei der absurden Diskussion von einem zum anderen. Die Wachen wurden immer nervöser, wobei Doc die Ruhe in Person zu sein schien. Bevor die Situation jedoch endgültig zu eskalieren drohte, tauchte Dr. Hillsborough in Begleitung von einem dritten Wachmann auf. Ohne Zeit zu verlieren schob sich der Gefängnisarzt an den kampfbereiten Wachen vorbei und kniete sich runter zu Tom. Er öffnete seine mitgebrachte Notfalltasche.
„Was haben Sie mit ihm gemacht? Sind Sie verrückt?“ Dr. Hillsborough verschaffte sich einen Überblick der Verletzungen. Schnell erkannte er, was geschehen war und führte mit wenigen Handgriffen einen Tubus in die Öffnung an Toms Hals, die Doc bis dahin mit dem Messer gespreizt hatte, und befestigte daran den Beatmungsbeutel.
In dem Augenblick als Doc das Messer entfernt und auf den Boden gelegt hatte, wurde er auch schon von den beiden Aufsehern überfallen und festgenommen. Er lies sich ohne Gegenwehr aus dem Raum entfernen. Lediglich ein „Gern geschehen“ rief er noch zum Abschied.
Sera bereitete aufgeregt das Behandlungszimmer vor. Es waren keine fünf Minuten vergangen, als eine Wache in die Krankenstation gestürmt war und Dr. Hillsborough wegen eines Notfalls gerufen hatte. Während er zum Ort des Geschehens geeilte war, traf sie im Behandlungsraum alle Vorkehrungen. Sie deckte den Behandlungstisch mit einem neuen Papierlaken und vergewisserte sich, dass alles griffbereit war. Das Einzige, was sie erfahren hatten, war, dass es wohl eine Messerstecherei gegeben hatte.
Sie hörte das laute Summen der mechanischen Tür und rannte in den Flur hinaus. Ein Mann lag auf einer Krankentrage. Er wurde von Dr. Hillsborough und einem Wachmann begleitet, der die Bahre schob. Erst als sie näher kamen erkannte Sera mit Entsetzen, dass es sich bei dem Verletzten um Tom handelte. Er sah blass aus und sein T-Shirt war völlig mit Blut verschmiert. An seinem Hals war ein Beatmungsbeutel befestigt, den Dr. Hillsborough per Hand bediente. Sie schoben die Bahre ins Behandlungszimmer. Der Aufseher fragte, ob er durchkommen würde. Aber zu solch einer Prognose konnte und wollte der Doktor noch keine Auskunft geben. Ohne weitere Fragen, ließ der Beamte die beiden alleine ihre Arbeit machen.
„Was ist passiert?“ Sera streichelte Toms Stirn. Ihre Berührung beruhigte ihn ein wenig. Er war viel zu blass, bemerkte sie. Wie viel Blut hatte er bereits verloren?
„Es gab wohl eine Prügelei“, resümierte Dr. Hillsborough. „Dabei scheint er einen Schlag gegen seinen Kehlkopf bekommen zu haben. Er ist angeschwollen. Er bekam keine Luft mehr.“
„Und da haben Sie ihm den Hals öffnen müssen?“ Sera war entsetzt. War ein solch drastischer Eingriff wirklich notwendig gewesen?
„Ich nicht“, entgegnete der Doktor zu ihrem Erstaunen.
Sera war perplex. Sie brachte keinen Ton mehr heraus. Wenn Dr. Hillsborough es nicht gewesen war, wer war es dann? Sie schaute sich die Öffnung mit dem Schlauch etwas genauer an. Der Schnitt wurde, wenn auch unsauber, genau an der richtigen Stelle gemacht. Wer auch immer es gewesen ist, er hatte genau gewusst, was er da tat. Vielleicht ein medizinisch ausgebildeter Justizvollzugsbeamte, dachte Sera.
Während Sera die Wunde vorsichtig säuberte, verabreichte Dr. Hillsborough dem Patienten Medikamente. Innerhalb der nächsten halben Stunde verbesserte sich Toms Zustand merklich. Die Schwellung ging allmählich zurück bis sie das Beatmungsgerät wieder entfernen konnten. Dr. Hillsborough nähte die Wunde am Hals zu, bevor er Tom in eines der Krankenzimmer verlegte. Er wollte ihn die nächsten Tage auf der Krankenstation unter Beobachtung behalten. Er wies ihm sogar das Einzelzimmer zu, so dass er sich ungestört erholen konnte.
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