„Danke.“
Sie fragte Dr. Hillsborough nach den benötigten Utensilien und wollte währenddessen von Tom wissen, wie es mit seinem Zellengenossen klappte. Bei ihrem letzten Besuch vor zwei Wochen hatte er ihr erzählt, dass Burt, mit dem er die kleine Zelle teilte, ihn wegen jeder Kleinigkeit anfahren würde. Eines Nachts hatte Burt ihn aus dem Schlaf gerissen und fast zu Tode erschreckt, nur weil er wegen einer verstopften Nase geschnarcht hatte. Burt war davon wohl aufgewacht und hatte seine Wut an ihm ausgelassen. Seitdem hatte er Schlafprobleme. Tom versicherte ihr jedoch, es würde jetzt besser laufen. Burt war zwar immer noch mürrisch aber langsam schien es Tom als sei er das schon sein ganzen Leben lang gewesen und es läge somit nicht an ihm.
„Leider kann man sich seinen Zellengenossen nicht aussuchen“, sagte Tom und kniff kurz die Augen zusammen, als Sera ihm die Spritze gab.
„Tut mir leid“, und das meinte sie nicht nur im Bezug auf den Nadelstich. „Jetzt kannst du mir täglich von deinen Abenteuern hier erzählen.“ Sie lächelte ihn aufmunternd an.
„Abenteuer. Das klingt eigentlich ganz cool. Ich wünschte, es wäre so“, er stand auf und wandte sich an Dr. Hillsborough. „Danke, dass sie das zulassen, Doktor. Ich meine, dass Sera und ich uns sehen und unterhalten dürfen und so.“
„Gern geschehen. Wenn ich euch vertrauen kann, lasse ich Sera vielleicht sogar alleine die Behandlungen machen, ohne Aufsicht“, versprach der Arzt. Er stand auf und öffnete die Tür. „Dann bis später Tom.“
Tom und seine Wache verschwanden wieder. Es dauerte einige Minuten bis der nächste Patient hereingebracht wurde. Sera war etwas nervös, dem ersten richtigen Straftäter gegenüber zu stehen. Sie sah Tom natürlich nicht als Straftäter an. Dafür kannte sie ihn zu gut. Er konnte keiner Seele etwas zu Leide tun und war immer ein ehrlicher Mensch gewesen. Seine Verurteilung war völlig unberechtigt gewesen!
Ihre Nervosität verschwand schnell, denn ihre Patienten waren alle überraschend freundlich ihr gegenüber, wenn auch einige etwas schroffer daherkamen, behandelten sie die neue Schwester mit Respekt. Anscheinend freuten sie sich, dass endlich mal frischer Wind in diese tristen Mauern kam. Anhand einiger Schilderungen musste ihre Vorgängerin ein alter Drache gewesen sein. Es gab jedoch einen Häftling vor dem sie sich fürchtete, der sie mit lüsternen Augen anstarrte. Die Anwesenheit von Dr. Hillsborough beruhigte sie aber etwas, sowie die Gewissheit, dass ein Justizvollzugsbeamter direkt vor der Tür stand und die Behandlung durch das Fenster verfolgen konnte.
Am späteren Nachmittag kurz vor dem Abendessen kam Tom noch einmal in die Krankenstation für seine zweite Spritze. Da Dr. Hillsborough wieder dabei war, hielten sie keine lange Konversation. Trotzdem war Sera über glücklich, Tom zwei Mal täglich sehen zu dürfen. Erst jetzt merkte sie, wie sehr sie ihn die letzten Monate vermisst hatte.
Es dauerte nicht lange bis sich bei Sera der Arbeitsalltag eingespielt hatte. Sie assistierte Dr. Hillsborough bei seinen Behandlungen, die meisten kamen wegen grippalen Infekten, Bauchschmerzen oder Migräne. Die Arbeit war nicht wirklich anders als bei ihrem vorherigen Arbeitgeber. Sie hatte nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester in ihrer Heimatstadt Danbury in einer privaten Gemeinschaftspraxis in New York eine Anstellung gefunden, bei der sie bisher gearbeitet hatte. Dort gab es immer reges Treiben, weil die Arztpraxen leider alle stets überlaufen waren. So wurde es jedoch auch nie langweilig. Hier in der Gefängniskrankenstation gab es tatsächlich Phasen am Tag an denen sie Zeit hatte, sich gemeinsam mit ihrem neuen Chef hinzusetzten und sich in Ruhe zu unterhalten. Mit jedem Tag wurde ihr Dr. Hillsborough sympathischer. Er war ein liebe- und verständnisvoller Mensch. Sie konnte sich prima mit ihm unterhalten. Bei seinen Patienten wusste er allerdings genau, wann er streng sein musste und wie er mit ihnen umzugehen hatte. Er beteuerte ihr, dass es jahrelange Erfahrung sei. In einigen Monaten würde sie auch die Dauerpatienten besser kennen und wissen, vor wem sie sich besser in Acht nahm. Auch gab es hier einige, die Beschwerden nur vortäuschten, um an Medikamente zu kommen. Daher mussten die Untersuchungen manchmal etwas genauer sein. In ihrer zweiten Arbeitswoche machte Sera auch Bekanntschaft mit dem ersten Opfer einer Prügelei und eines Drogenabhängigen, der auf Entzug war. Sie war erstaunt, als Dr. Hillsborough ihr erklärte, wie einfach es sei, im Knast an Drogen zu kommen. Manchmal wurden den Abhängigen absichtlich keine Drogen mehr verkauft, um sie für bestimmte Zwecke zu missbrauchen. Sobald die ersten Entzugserscheinungen auftraten, waren sie bereit, alles zu tun.
Tom lag wach in seinem Bett. Nur wenige Zentimeter über ihm quietschten die Federn des Hochstockbettes. Burt drehte sich schon wieder. Das ging nun fast die ganze Nacht so. Eine Nacht in der Tom mal wieder nicht schlafen konnte. Unruhig rutschte er hin und her, ohne dabei viel Lärm zu machen. Er wollte auf keinen Fall riskieren, seinen mürrischen Mitbewohner aufzuwecken.
Plötzlich ertönte ein lautes Klingeln durch den Lautsprecher, der über der Tür in die Wand eingebaut war. Es war 6 Uhr. Der Weckruf. Selbst am Wochenende wurden sie zu dieser frühen Stunde geweckt. Es gab keine Ausnahme. Der Tagesablauf war streng geregelt und immer der gleiche, bis auf das Wochenende. Denn dann blieben die Häftlinge zu den üblichen Arbeitszeiten in ihren Zellen eingesperrt. Die Wochenenden kamen Tom daher wie eine halbe Ewigkeit vor. Sie waren mit das Schlimmste an diesem Gott verlassenen Ort.
Er saß in einem dieser moderneren Gefängnisse, in denen die Zellen, die spärlich eingerichtet waren, komplett voneinander getrennt waren. Eine schwere Eisentür riegelte jeden Raum ab, sodass die Insassen nicht in den Flur spähen konnten, wie es sonst bei vergitterten Zellen üblich war. Das verstärkte natürlich das Gefühl der Einsamkeit erheblich.
Tom stand auf, putzte sich die Zähne am kleinen Waschbecken, das sich neben der Toilette befand. Eine kleine halbhohe Mauer, hinter der die Toilette versteckt war, diente lediglich als Sichtschutz. Privatsphäre gab es im Knast nicht. Saß man auf dem Klo, schaute noch der ganze Oberkörper über der Mauer hervor. Tom hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass ihm jemand beim Pinkeln zusehen konnte. Er fand es erniedrigend und beschämend.
Gegenüber dem Waschbereich standen zwei Spinde, in denen private Kleinigkeiten und saubere Kleidung aufbewahrt wurden. Tom hatte ein Foto seiner Familie in die Innenseite der Spindtür gehängt.
Auf der anderen Seite von dem Hochstockbett stand ein kleiner Ecktisch mit einem Brett als Ablagefläche darüber an die Wand geschraubt. Ansonsten gab es nichts mehr in der kleinen Zelle. Alleine war es schon sehr eng und bedrückend, doch zu zweit war es kaum erträglich, besonders wenn man sich mit seinem Mitbewohner nicht verstand.
Tom zog sich seine Hose an und wechselte in ein sauberes T-Shirt. Das einzige, was nicht in grellem Orange ertönte, waren ein paar weiße Sneakers und ein weißes langärmliges Sweatshirt, welches er als Unterhemd trug. Die Klappe an der Tür wurde von außen geöffnet und ein Wachmann brüllte ein kurzes „Morgen!“ bevor er nacheinander zwei Tabletts durch die Öffnung schob. Tom nahm eines davon entgegen. Nachdem auch Burt sein Frühstück in Empfang genommen hatte, wurde die Klappe mit einem lauten Knall wieder geschlossen. Tom setzte sich mit seinem Essen auf sein Bett, da Burt den Tisch für sich reserviert hatte. Er hatte Tom vom ersten Tag an klar gemacht, dass der Tisch seiner sei, zum Essen und auch sonst zu jeder Zeit. Den zweiten Stuhl, benutzte Burt, um seine Füße hochzulegen. Auch dieser war Burts Eigentum. Tom hatte sich nicht getraut, dem zu widersprechen und so musste er sich daran gewöhnen, sein Frühstück im Bett zu sich zu nehmen.
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