Die Krankenstation hatte zwei Eingänge. Einen, durch den Sera kam und einen anderen, der von einem Vollzugsbeamten bewacht wurde, durch den die Häftlinge gebracht wurden. Ein breiter Flur führte zu mehreren Räumen. Im Eingangsbereich gab es so was wie eine Anmeldestation, hinter der ein älterer Mann saß, dessen Haare und gestutzter Vollbart so weiß waren wie der Kittel, den er trug. Als er Ferguson und seine Begleitung hereinkommen sah, kam er hinter der Anmeldestation hervor. Er hatte ein gütiges Gesicht, das aber auch zu gegebenen Anlässen sehr streng wirken konnte. Mit einem sehr freundlichen Lächeln begrüßte er seine neue Assistentin.
„Sera Goodwin“, er nahm ihre Hand in seine, „schön Sie wiederzusehen.“
Sie hatte Doktor Hillsborough bei ihrem Vorstellungsgespräch vor ein paar Wochen kennengelernt und fand ihn auf Anhieb sympathisch, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Irgendwie erinnerte er sie von seiner Art her an ihren eigenen Großvater, der stets freundlich und ein herzensguter Mensch war. Allerdings war ihr Großvater nicht so groß wie ihr neuer Vorgesetzter, der ihrer Schätzung nach mindestens ein Meter neunzig sein musste.
Ferguson verabschiedete sich. Er musste zurück an seine eigene Arbeit. Sera folgte dem Doktor in den Raum, der sich hinter der Anmeldung befand. Hier bekam sie einen Spind mit Schloss zugeteilt, in dem sie ihre Tasche und Jacke verstaute. Auf dem kleinen runden Tisch in der Mitte des Raumes lag ihre neue Arbeitskleidung. Eine Hose, T-Shirt und Sweatshirt in kräftigem Pink. Sie war nicht allzu begeistert. Pink war nicht gerade ihre Lieblingsfarbe. Aber Dr. Hillsborough versicherte ihr, sie würde großartig darin aussehen. Außerdem hätte angeblich eine Studie bewiesen, dass die Farben Rosa und Pink eine beruhigende Wirkung haben sollten, was bei ihren künftigen Patienten von Vorteil sein könnte.
Oh Gott, daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Immer wenn sie an ihre neue Arbeitsstelle gedachte hatte, kam ihr nur Tom in den Sinn. Dass sie auch anderen Straftätern, Mördern und sogar Vergewaltiger gegenübertreten und diese behandeln müsste, verbannte sie bis dato aus ihrem Kopf. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr.
Nachdem sich Sera schnell im Nebenraum, einem kleinen privaten Bad, umgezogen hatte zeigte ihr Dr. Hillsborough noch die anderen Räumlichkeiten der Krankenstation. Es gab zwei allgemeine Behandlungsräume, einen kleinen Operationsraum, wo jedoch nur kleine Eingriffe vorgenommen werden konnten und durften, sowie vier Krankenzimmer, in denen die Patienten lagen, die länger stationär behandelt werden mussten. Zwei davon waren Einzelräume. In den anderen beiden standen jeweils fünf Betten. An diesem Tag, befanden sich jedoch keine Patienten auf der Station.
Zurück im Aufenthaltsraum tranken sie eine Tasse Kaffee zusammen und Dr. Hillsborough erklärte ihr einige Tagesabläufe. Morgens bis 7:30 Uhr kamen die ersten Patienten auf die Krankenstation, um ihre Medizin zu bekommen. Da weder Spritzen noch Tabletten außerhalb der Krankenstation benutzt oder eingenommen werden durften, mussten die Behandelten zum Doktor gebracht werden und bei der Einnahme mussten er oder die Krankenschwester immer anwesend sein, um es zu überwachen. Die Häftlinge hatten bis 16 Uhr Dienst in verschiedenen Bereichen des Gefängnisses. Erst danach kamen die Patienten wieder, die verschreibungspflichtige Medizin einnehmen mussten. Natürlich gab es hin und wieder auch Arbeitsunfälle, die dann sofort zu ihnen gebracht wurden. Ansonsten war jedoch die meiste Zeit des Vor- und Nachmittags eher ruhig. In diesen Stunden konnten sie sich um eventuell stationäre Patienten kümmern.
„Ich muss sagen, ich war erstaunt über Ihre Offenheit beim Vorstellungsgespräch. Über Ihre Motive hier zu arbeiten meine ich“, sprach Dr. Hillsborough.
Sera nahm einen kräftigen Schluck, bevor sie achselzuckend antwortete: „Ich dachte, wenn ich überhaupt eine Chance auf diesen Job habe, muss ich die Karten auf den Tisch legen. Eigentlich bin ich selbst überrascht, dass ich trotz Allem eingestellt wurde.“
„Nun ja“, ihr Gegenüber war sichtlich amüsiert, „um ebenfalls ehrlich zu sein, mussten wir uns nur zwischen Ihnen und einer weiteren Bewerberin entscheiden, die durchaus kompetent war.“
„Aber?“ Sera war neugierig.
„Ihre Konkurrentin war leider bereits 60 und da diese Position frei wurde, weil Ihre Vorgängerin in Rente ging, wollten wir nicht wieder in ein paar wenigen Jahren jemand neuen suchen. Es hatte mich überrascht, dass eine junge hübsche Krankenschwester überhaupt in diesem, wenn ich sagen darf, Loch freiwillig arbeiten wollte. Aber als Sie uns Ihre Beziehung zu einem Insassen erklärten, war mir alles klar. Ich fand es… süß.“
Süß. Ja das war sie. Sera die Süße. Schon seit sie klein war, wurde sie stets mit süß assoziiert. Eigentlich hatte sie nie ein Problem damit, aber süß in einem Gefängnis? Ob das gut ginge? Sie werde es rausfinden müssen, denn ein Zurück gab es nicht mehr.
Dr. Hillsborough schaute auf die Uhr. 7:00 Uhr. Es war Zeit für die ersten Besuche. Jeden Morgen um diese Uhrzeit wurden die Insassen zur Krankenstation gebracht, die verschreibungspflichtige Medikamente benötigten. Nur er oder ab jetzt auch Sera, durften Medikamente verteilen oder Spritzen geben.
Ein lautes Summen öffnete die Eingangstür. Ein Wachmann trat in Begleitung des ersten Patienten ein. Sera versuchte, nicht laut aufzuschreien. Sie konnte förmlich spüren wie sich Glückshormone in ihrem Körper freisetzten. Das Unterdrücken eines Lächelns fiel ihr schwer. Da kam Tom. Er trug die orangefarbene Häftlingskleidung. Auf der Rückseite des T-Shirts war in weißen Buchstaben „NYCF“ aufgedruckt. Seine kurzen dunkelbraunen Haare waren nur flüchtig gekämmt worden. Seine braunen Augen fingen zu leuchten an, als er sie erblickte. Er lies sie nicht aus den Augen, aber auch nichts anmerken. Dr. Hillsborough wies die Wache an, vor der Tür zu warten. Die Tür hatte ein großes Fenster eingebaut, damit die Wachen aus Sicherheitsgründen hineinspähen konnten. Dr. Hillsborough ließ jedoch die Jalousie runter. Sie waren ungestört. Sera hatte es klar gemacht, dass sie ihre Beziehung zu Tom geheim halten wollte. Nur Dir. Peterson, Ferguson und Dr. Hillsborough wussten bescheid. Im Behandlungsraum setzte sich der Arzt Abseits an einen Schreibtisch und beobachtete die Szene mit verschränkten Armen.
Sera konnte sich nicht länger zurück halten. Sie fiel dem jungen Mann um den Hals. Als offizieller Besucher, durfte man keinen körperlichen Kontakt zu den Insassen haben, lediglich ein Händeschütteln wurde erlaubt. Sie drückten sich eine gefühlte Ewigkeit.
„Wie geht es dir?“ Ihre Augen wurden feucht.
„Ich kann es kaum glauben. Jetzt stehst du tatsächlich hier vor mir. Du bist verrückt! Das habe ich gar nicht verdient.“ Tom kämpfte selbst mit den Tränen.
Sie hatte sich in die Höhle des Löwen gewagt und das nur wegen ihm. Er hatte kein gutes Gefühl bei dem Gedanken, wem sie hier alles über den Weg laufen könnte und dennoch war er überglücklich, sie ab jetzt jeden Tag sehen zu dürfen. Tom war seit seiner Kindheit Diabetiker. Er brauchte morgens und abends eine Spritze Insulin. Von diesem Tag an, würde Sera ihm seine Spritzen verabreichen und so konnten sie sich viel öfters sehen als zu den Besucherzeiten. Jeden Freitag durften die Häftlinge zwischen 16 und 18 Uhr Besuch im großen gemeinschaftlichen Besucherraum empfangen.
Sera glaubte es war Schicksal, dass fast zur gleichen Zeit als Tom verurteilt wurde die Stelle der Gefängniskrankenschwester frei wurde. Es kam ihr wie in einem Traum vor. Das Glück war auf ihrer Seite. Tom löste sich vollständig von der Umarmung, setzte sich auf den Behandlungstisch und betrachtete Sera von oben nach unten.
„Pink steht dir“, bemerkte er mit einem Grinsen.
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