„Das konnten wir natürlich nicht zulassen“, fuhr er fort. „Wir haben ein paar Schläge verteilt und leider auch einige eingesteckt, wie man sieht. Ich nehme an, Tom wurde irgendwann ungünstig am Kehlkopf getroffen. Das muss passiert sein, bevor wir da waren, denn da lag er ja schon am Boden. Einer der Mistkerle bemerkte dann, dass er keine Luft mehr bekam und dann türmten die feigen Drecksäcke, als wären sie von der Tarantel gestochen worden. Es zählte jede Sekunde. Ich musste etwas unternehmen. Also habe ich kurzerhand eine improvisierte Koniotomie durchgeführt. Bis Sie da gewesen wären Doktor, wäre der arme Kerl doch schon erstickt, verstehen Sie? Sie dürfen mir jetzt aber gerne danken!“
„Sie haben also den Eingriff an Tom vorgenommen?“ Sera schüttelte ungläubig den Kopf.
„Heart war selber einmal Arzt“, bemerkte Dr. Hillsborough.
Heart schüttelte energisch den Kopf und winkte mit dem Zeigefinger. „Ist, mein lieber Doktor, ist! Ich habe vielleicht meine Freiheit und alles was dazu gehörte verloren, aber nicht meine Zulassung. Ich bin immer noch Arzt, wenn auch momentan nicht praktizierend.“
Sera war verblüfft, doch ihre Neugier war noch nicht ganz gestillt. „Aber wie haben Sie das gemacht? Tragen Sie vielleicht immer ein Skalpell mit sich herum?“
Heart entging der Sarkasmus in ihrer Stimme nicht. „Bedauerlicherweise nein. Ich habe das überaus stumpfe aus eigener Hand kunstvoll hergestellte Messer benutzt. Nicht meins wohlgemerkt!“, stellte er an Dr. Hillsborough eindringlich klar.
Seras Augen wurden feucht. Sie legte die Hand auf den Mund. Wie grauenvoll und schmerzhaft das für Tom gewesen sein musste. Ein Teil von ihr wollte dieses arrogante Arschloch vor Wut anbrüllen und eine Ohrfeige verpassen, aber ein weitaus größerer Teil wollte ihm danken. Danken, dass er Toms Leben gerettet hatte, egal wie. Ohne ihn wäre Tom wohl nicht mehr hier. Sie schloss für einen Moment ihre Augen. Heart beobachtete sie mit zusammen gekniffenen Augen, als wolle er sie genauestens studieren.
Dr. Hillsborough klebte ein Klammerpflaster absichtlich grob auf Hearts Wunde, was seinen Zweck erfüllte. Mit einem klagenden „Aua“ wandte dieser den Blick von der Krankenschwester ab. Genug mit alle dem. Er kannte Heart lange genug. Er mochte ihn nicht sonderlich, weil er schon öfters den Gefängnisarzt gespielt hatte. Allerdings mischte er sich wohlgemerkt nur bei den wirklich lebensbedrohlichen Zwischenfällen ein. Ansonsten hielt sich Heart als stiller Beobachter im Hintergrund. Aber Dr. Hillsborough musste auch zugeben, dass Hearts Erste Hilfe Maßnahmen immer schnell und präzise waren und er damit bereits drei Mithäftlingen, Tom eingeschlossen, das Leben gerettet hatte. Doch selbst nach all den Jahren konnte er ihn schlecht einschätzen. Er war oft missgelaunt und immer vorlaut, obwohl er sich im Grunde doch für seine Mitmenschen hilfsbereit einsetzte. Der Arzt entschied sich, ihn einfach weiterhin nicht leiden zu können.
„Sie sind fertig“, schloss Dr. Hillsborough die Behandlung ab.
„Auf ins Loch“, jubelte Heart mit einer ironischen Fröhlichkeit und sprang vom Behandlungstisch.
„Peterson steckt Sie in Isolationshaft?“ Dr. Hillsborough war überrascht. Gut, Heart hatte sich an einer Prügelei beteiligt und eine illegale Waffe benutzt. Aber doch nur, um einem Mithäftling das Leben zu retten! Selbst er war der Meinung, dass Hearts Aktion etwas Anerkennung verdiente. Anscheinend hatte seine kleine Ansprache zuvor bei Peterson nichts gebracht. Er griff hart durch.
„Wie lange?“, wollte der Gefängnisarzt wissen.
Heart machte das Peace Zeichen mit seinen Fingern.
„Zwei Tage?“, deutete Sera.
„Zwei Wochen“, korrigierte Heart.
„Zwei Wochen Isolationshaft ist eine harte Strafe“, bemerkte Dr. Hillsborough bestürzt. „Selbst für Sie.“
Heart zuckte mit den Achseln. Sein Blick senkte sich und Sera erkannte eine Traurigkeit darin. War das fair? Immerhin hat er ein Leben gerettet. Egal mit welchen Beweggründen und Mitteln, ohne ihn wäre Tom nicht mehr. Sie hatte plötzlich Mitleid mit ihm.
Im Flur ging Ferguson mit Eddie und Heart in Richtung Ausgang. Bedrückt schaute sie den Dreien hinterher.
Zwei Tage nach dem Zwischenfall ging es Tom schon etwas besser. Er konnte bereits wieder sprechen, wenn auch nur wenig, leise und mit Schmerzmitteln. Sera versuchte jede freie Minute bei ihm zu sein. Sie saß auf einem Stuhl neben seinem Bett, die Hände im Schoss gefaltet. Sie kaute auf ihrer Unterlippe.
„Was hast du?“, flüsterte Tom. Er war besorgt.
„Ich habe gehört, worum es bei der Prügelei ging“, sagte sie zaghaft.
Sie wusste nicht, wie sie mit ihm darüber sprechen sollte. Seine Verletzungen würden verheilen. Aber das bedeutete auch, dass er irgendwann die Krankenstation verlassen musste und was würde dann geschehen? Würden seine Angreifer einen zweiten Versuch wagen? Sie konnte ihn im Zellentrakt nicht beschützen.
„Es ist ja nichts passiert.“
Tom entging nicht, wie besorgt sie um ihn war. Er konnte aber auch nicht mit ihr darüber sprechen. Er hatte Angst und schämte sich zutiefst, was er sich vor ihr nicht anmerken lassen wollte. Allein bei dem Gedanken, was geschehen war oder was hätte noch alles passieren können, trieb es ihm Tränen in die Augen.
„Was ist aus den anderen geworden?“, versuchte er die Konversation in eine andere Richtung zu lenken.
„Dein Lebensretter sitzt in Isolationshaft. Eddie durfte, soweit ich weiß, zurück in seine Zelle. Dr. Hillsborough hat mir gestern gesagt, dass die drei, die dich angegriffen hatten, von Eddie und Heart identifiziert wurden. Peterson hat sie auch in Einzelhaft gesteckt. Allerdings weiß ich nicht für wie lange.“
„Heart?“, Tom war etwas irritiert. „Du meinst den Doc?“
Sera nickte. Das ergab natürlich einen Sinn, dass Heart als der Doc unter den Insassen bekannt war. Dr. Hillsborough hatte ihr erzählt, dass er bereits mehrfach abenteuerliche Eingriffe bei seinen Mithäftlingen durchgeführt hatte. Er hatte ihr die Vorfälle geschildert, wobei er einerseits anerkennend über Hearts ärztliche Fähigkeiten berichtete, sein abfälliger Tonfall allerdings verriet, dass er ihn als Person nicht besonders mochte. Ein Zwiespalt wie Sera ihn vor zwei Tagen selbst empfunden hatte. Sie war fasziniert von seiner Begabung als Arzt, wie er den Eingriff an Tom durchgeführt hatte, und seinem Selbstbewusstsein, von seinem guten Aussehen ganz zu schweigen, doch mit seiner selbstgefälligen Art konnte sie nichts anfangen. Sie konnte solch eine Arroganz nicht ausstehen. Aber da war auch dieser eine Moment, in dem sie eine Verletzlichkeit in seinen Augen gesehen hatte. Sie konnte ihn nicht durchschauen und das hasste sie wohl am aller meisten.
Als sich der Tag dem Ende neigte, schaute Sera noch einmal bei Tom rein, bevor sie in den Feierabend ging. Tom schlief bereits. Dr. Hillsborough hatte sich an diesem Abend eine halbe Stunde früher verabschiedet. Sie war das erste Mal alleine in der Krankenstation. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie noch exakt 15 Minuten alleine war bis die Nachtschicht ihren Dienst antreten würde.
Sie setzte sich an den Computer im Behandlungsraum um ihn auszuschalten zögerte jedoch. Sie hatte eine Idee. Neugierig durchforstete sie die Programmübersicht. Sie klickte auf eines. Prompt öffnete sich eine Art Formular, das zur Suche von Insassen diente. Hier wurde alles über die Straftäter festgehalten. Suchkriterien waren Häftlingsnummer, Name, Vorname, Geburtstag und Straftat. Nervös blickte sie über die Schulter und fing an auf ihrer Unterlippe zu kauen. Mit zwei Zeigefingern tippte sie unter Name ein H-E-A-R-T.
Der Bildschirm wechselte zu einem Dokument, auf dem ihr als erstes das Bild ins Auge fiel. Heart hatte die selbe Out-of-Bed-Frisur, die sie schon in Natura bewundern konnte. Allerdings war er auf dem Porträt glatt rasiert. Er trug einen schwarzen Anzug mit gelockerter Krawatte, den obersten Knopf des weißen Hemdes geöffnet. Sein Gesichtsausdruck war der eines biometrischen Passbildes. Er hob eine Tafel vor sich, auf der stand:
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