»Sir, Kota! 15 minutes, please.«
Der Schaffner steht mit einem Glas Tee in der Tür und weckt Erik. Erik hätte jetzt gerne einen starken Kaffee, würde notfalls auch Tee akzeptieren, lehnt den Tee allerdings dankend ab, da er den hygienischen Verhältnissen nicht ganz traut. Er fühlt sich wie gerädert. Durch die Zeitumstellung, den Flug, die Aufregung beim Zoll und die ungewohnte Bahnfahrt hat er in den letzten zwei Tagen nicht besonders viel geschlafen. Mit glasigen Augen und Haaren, die durch das Kopfkissen auf der einen Seite plattgedrückt und auf der anderen Seite widerspenstig abstehen, sitzt Erik schlaftrunken auf der Bettkante und hofft, dass diese Reise bald ein Ende nimmt. Um das Ausladen muss sich Erik zum Glück keine Sorgen machen. Kaum hat der Zug gehalten, hat der Schaffner sofort Träger organisiert, die sich die Kisten greifen und nach draußen schleppen. Erik lächelt in sich hinein, wenn er an seine anfänglichen Sorgen mit Blick auf den Berg Gepäck zurückdenkt. Zu seiner Erleichterung konnte er erleben, dass derartige Tätigkeiten in Indien überhaupt kein Problem darstellen. Man muss nur mit dem Finger schnippen und schon hat man beliebig viele Helfer zur Verfügung. Beim Verlassen des Zuges wartet der Schaffner an der Tür und Erik gibt ihm 10 Rupien Trinkgeld.
Als Erik in der Morgendämmerung aus dem Zug steigt, hat er unwillkürlich das Gefühl, als wäre er Teilnehmer in einem Western: Die trockene, staubige Luft, das einsame Ortsschild der Haltestelle, das im Wind langsam hin und her schwingt. Es hängt etwas schief, weil eine Seite der Aufhängung kürzer wie die andere Seite ist. Es hat sich wohl schon seit Jahren keiner mehr darum gekümmert. Eine einsame Krähe sitzt sich auf einem Pfahl und begrüßt krächzend den Protagonisten, der an dieser einsamen Bahnhofsstation aussteigt, um einen Job zu erledigen. Der Bahnhof ist bis auf wenige Ausnahmen schnell wieder leergefegt. Die ausgestiegenen Reisenden sind hastig mit ihren Habseligkeiten verschwunden. Erik wundert sich, dass der Zug nicht einmal 3 Minuten gehalten hat, bevor er weiterfährt, beinahe so, als wolle er selbst nicht länger als unbedingt nötig an diesem Ort verweilen.
Die anschließende Stille, die sich wie ein Tuch über die Szene legt, unterstreicht die Einsamkeit dieses Ortes. Es ist wohl ein Ort, der so weit weg von der Zivilisation entfernt liegt, dass er ein Paradebeispiel für Einsamkeit abgibt. Erik sucht instinktiv nach dem Abgrund, der sich doch am Ende der Welt befinden müsste. Kein vernünftiger Mensch, würde ohne Not an dieser Stelle aus dem Zug steigen. Die Einöde lässt sich fast körperlich fühlen. »Warum muss ausgerechnet ich hier stehen?«, fragt sich Erik, als etwas Verzweiflung in ihm aufkommt. »Alle diese wunderbaren Abenteuer habe ich durch meine Unterschrift unter den Arbeitsvertrag mit gebucht. Warum habe ich nur nicht das Kleingedruckte gelesen?«
Von den Kofferträgern, die der Schaffner herbeigerufen hat, steht wohl nur der Chef noch neben dem Stapel an Gepäck und wartet auf die Rückkehr der Helfer, die zwischenzeitlich den anderen Reisenden geholfen haben. Erik ist irritiert, dass er keinen Mitarbeiter seiner Firma sieht und fragt sich, ob er denn auch an dem richtigen Ort ausgestiegen ist. Er nimmt sein Ticket, zeigt es dem Chef der Kofferträger und versucht von ihm zu erfahren, ob dies auch die richtige Station ist. Das Ergebnis ermutigt ihn jedoch überhaupt nicht, da der gute Mann sich sichtlich bemüht, aber erstens nicht versteht, was Erik von ihm will und zweitens vermutlich nicht einmal lesen kann. Selbst wenn der Ort der Richtige ist, hat Erik keine Ahnung, wie er zur Baustelle kommen soll. Würde er ein Taxi finden, könnte er nicht sagen, welche Richtung es nehmen soll. Etwas nervös und ungehalten über diese Unsicherheit beschließt Erik, vor den Bahnhof zu gehen. Mittlerweile sind auch die anderen Träger zurückgekehrt, so dass Erik das Signal zum Aufbruch gibt. Er marschiert vorneweg und die Karawane marschiert hinter ihm her. So leer und ruhig der Bahnhof war, in dem Moment, in dem Erik durch die Vorhalle des Bahnhofs auf den Vorplatz tritt, empfängt ihn wieder das typisch indische, quirlige Leben. Von seiner leicht erhöhten Position auf der obersten Treppenstufe des Bahnhofes lässt er seinen Blick über die Szenerie wandern. Bunt gekleidete, dunkelhäutige Menschen überall. Ein quirliges Durcheinander, wie in einem angestochenen Ameisenhaufen. Kleine Kinder, die ihn mit großen Augen anstarren und Ratten, die an den Hauswänden entlang huschen. Dazwischen ausgemergelte Hunde und knochige Menschen, die nebeneinander am Straßenrand hocken. Allerdings sind die Kinder nicht so aufdringlich wie in Delhi, wo sie an seiner Kleidung zerren und um Rupien betteln. Allerdings empfängt ihn auch hier wieder ein penetranter Gestank nach Urin, verrottendem Abfall und brennendem Müll. Dieses aufdringliche, Grenzen ignorierende Leben, das einen umhüllt und einem unter die Haut fährt, scheint in Indien überall gleich zu sein, egal ob man in Mumbai, Kalkutta oder diesem Dorf steht.
Erik fällt auf, wie viele Inder einfach so auf dem Boden hocken und irgendwie nichts zu tun haben. Er hat in seinem Leben noch nie so viele bettelarme Menschen gesehen. Vor allem, so viele Menschen, die am Existenzminimum leben. Es hat den Anschein, dass viele ihre gesamten Habseligkeiten in einem kleinen Beutel ständig mit sich tragen. Sie scheinen alle auf etwas zu warten, irgendwie entspannt aber doch hoffnungslos, weil ja doch nichts passieren wird.
Erik versucht, die aufkommenden, negativen Gedanken beiseite zu schieben. Es ist noch recht früh am Morgen und die Sonne steigt gerade über den Horizont. Die Temperaturen sind sehr angenehm, so dass er weder friert noch schwitzt. Vor dem Bahnhof ist ein Parkplatz, auf dem einige Autos stehen. Am Rand sieht Erik, wie ein junger Mann das Wasser aus einer Pfütze nutzt, um sich zu waschen. Überall liegen kleine Müllhaufen herum. Aus vielen steigen Rauchschwaden empor. Sie brennen nicht richtig, sondern schwelen vor sich hin, so dass ein sehr unangenehmer, beißender Geruch entsteht, der sich über alles legt und in der Nase kneift.
Die Häuser sind alle mit bunten Farben verschönert worden. Allerdings blättern überall Putz und Farbe ab, so dass alles mittlerweile verwahrlost wirkt. Bei näherer Betrachtung scheint es sich bei den Wänden um Lehm zu handeln, der wohl bei heftigen Regenfällen leidet. Auch die Straße erscheint nur als fest gestampfter Boden ohne Teerbelag. Überall sind kleine Karren zu sehen, auf denen etwas angeboten wird. Auch der obligatorische Friseur hat seinen Stuhl an der Straße stehen und frisiert seine Kunden in aller Öffentlichkeit.
»Na, mit meinen Kreditkarten werde ich hier nicht sehr weit kommen!«, resümiert Erik seinen ersten Eindruck. »Das ist nicht nur Tausende Kilometer von jeder Zivilisation entfernt, es ist auch eine Zeitreise ins Mittelalter. Wenn ich hier verkehrt ausgestiegen bin, na dann gute Nacht, Marie!« murmelt er vor sich hin.
Die geordneten und geregelten Abläufe und Annehmlichkeiten in Europa gelten hier nicht mehr. Auch hier wird es sicher für jede Kleinigkeit einen willigen Dienstleister geben. Doch erstens wird es Erik wohl kaum möglich sein, genau zu erklären, was er möchte und wenn, dann wird alles zum Scheitern verurteilt sein, wenn es mehr kosten sollte, als er an Bargeld in der Tasche hat. Mit Sicherheit wird das, was man hier kaufen kann, sich auf die bescheidene Kaufkraft dieser Menschen beschränken. Wenn man in Deutschland etwas braucht, geht man in den nächsten Supermarkt oder Baumarkt. Fehlt hier etwas, so wird es vermutlich nur mit hohem Aufwand zu besorgen sein. In Deutschland gibt es gesetzlich garantierte Qualitätsansprüche und auch sonst ist man rundum mit Wattebäuschen aus wohlmeinenden Gesetzen und Versicherungen geschützt. Erik erkennt immer mehr, dass er diesem behüteten Dasein für einige Zeit Lebewohl sagen und wohl auch seine Gewohnheiten grundlegend anpassen muss. Kaum einer der Aspekte, die in Deutschland wichtig sind, behält hier seine Wertigkeit. Erik hat das Netz einer hoch technisierten, gut organisierten Welt verlassen und muss sich nun selbst um alles kümmern. Dazu kommt: keine Restaurants oder Bars, keine Frauen, kein Luxus, Wege, die er sich mit Ratten teilt und wohl ständig Staub, Dreck und Gestank. Und dann noch die ständige Bedrohung durch Krankheiten und Infektionen. Die Zustände sind alles andere als hygienisch. Ratten, Moskitos, Staub, Hitze, Dreck. Das sind augenscheinlich die täglichen Accessoires in seinem neuen Leben. In Delhi konnte er noch in die Oase der Luxushotels flüchten, um sich von diesem erdrückenden, aufdringlich nackten Leben zu erholen. Wenn überhaupt, so wird es hier jedenfalls keine Hotels nach westlichem Standard geben.
Читать дальше