Mit einem Mal hört er ein lautes Skandieren und Trompeten. Er erhebt sich wieder etwas aus den Polstern und sieht, wie die Querstraße vor dem Taxi durch eine große Gruppe Menschen blockiert ist, die mit Fahnen und rhythmischen Sprechchören vorbei ziehen. Etwas belustigt fragt Erik den Fahrer, um was es sich denn bei dem Umzug handelt. Die Antwort irritiert Erik dann aber doch. Die Regierung plant eine Quotenregelung für die untersten sozialen Schichten, um diesen ein Kontingent an Arbeitsplätzen in der Verwaltung zu reservieren. Genau diese Gruppe, für die diese Regelung gedacht ist, läuft aber gerade vor dem Taxi vorbei und protestiert dagegen. Der Fahrer erläutert Erik den Zusammenhang. Es gibt etliche Politiker, die diese Regelung aus persönlichen Gründen ablehnen. Daher bezahlen sie diesen Menschen Geld, damit die auf die Straße gehen und gegen etwas demonstrieren, was eigentlich ihr Leben verbessern soll. Langsam versteht Erik, wie Politik in Indien funktioniert. Korruption ist wohl ein tägliches Mittel, um seine Ziele zu erreichen.
Auch wenn das Erlebnis am Connaught Place noch immer einen unangenehmen Nachhall hat, hat diese Fahrt schon wieder so viele neue Eindrücke hinterlassen, dass dieses fade Gefühl mehr und mehr verblasst. Seine Anspannung verliert sich aber erst, als sie die Einfahrt des Hotels passieren und er den angenehmen Luxus dieser Oase im Ozean des Überlebenskampfes wieder betritt.
Mit dem Nachtzug durch Indien
Als Erik seinen Schlüssel an der Rezeption abholen möchte, erfährt er, dass ein Besucher auf ihn wartet. Der Concierge deutet auf einen Inder, der in der Nähe auf einer Couch sitzt. Erik nimmt seinen Schlüssel und geht zu dem jungen Mann, der ihn erwartungsvoll ansieht.
»Good afternoon, Sir, I am Anil.« stellt der junge Mann sich vor. Er ist der Mitarbeiter aus dem Firmenbüro. Als Erik nachfragt, erklärt Anil, dass er bereits seit zwei Stunden auf Erik wartet. Wenn Indien etwas besitzt, dann Zeit. Vielleicht hat Anil die Atmosphäre im Hotel als bezahlte Arbeitszeit sogar genossen.
»We need to go to customs at airport«, erläutert ihm Anil. »Please collect your passport and come with me. We need to solve the matter today.«
Etwas verwundert über diese plötzliche Eile holt Erik seinen Pass und folgt Anil vor das Hotel. Dort erscheint sofort ein Fahrzeug, in dem sie beide auf dem Rücksitz Platz nehmen. Eigentlich wollte Erik etwas essen, aber aufgrund dieser Eile ist es nicht möglich. Nach einer Stunde Fahrt durch die verstopfte Stadt erreichen sie den Flughafen und gehen direkt zu dem Anbau, in dem Erik die Koffer verstaut hat. Anil diskutiert kurz mit einem Aufpasser vor der Tür, der sie daraufhin einlässt. Zielstrebig wandert Anil zu einem Büro und tritt nach kurzem Klopfen ein. Fröhlich begrüßt er einen Zollbeamten und plauscht mit ihm ein paar Minuten, wobei Erik vor der Tür bleibt. Als ein weiterer Mitarbeiter auftaucht, erhebt sich der Beamte schließlich und alle zusammen gehen den Flur entlang zum Lager. Dort muss Erik die Koffer identifizieren und auf einen Trolley packen. Über einen Fahrstuhl gelangen sie dann in den ersten Stock in einen lang gezogenen Raum, in dem Erik dann aufgefordert wird, den Inhalt der Koffer auf einem Tisch auszubreiten. Gegenüber befinden sich lange Tischreihen, auf denen etliche Kataloge aus allen erdenklichen Teilen der Welt liegen. Schließlich kommt ein junger Zöllner und begutachtet die Gegenstände aus Eriks Koffer. Dabei handelt es sich hauptsächlich um elektronische Karten, die für die Steuerung des Kraftwerkes vorgesehen sind. Nach einem kurzen Blick wendet sich der junge Zöllner den Tischen auf der Rückseite zu und kramt einen dicken Katalog hervor. Langsam blättert der junge Kollege die Seiten um und versucht die Gegenstände aus Eriks Koffer wieder zu finden. Gespannt tritt Erik hinter den Zöllner und erkennt, dass es sich um den Katalog eines amerikanischen Warenhauses handelt.
»Da wird er nichts drin finden!« resümiert Erik und überlegt, wie er das Thema lösen kann. Schließlich landet der junge Zöllner auf einer Seite mit Computerkarten für den Anschluss von Druckern. Erik versucht sein Glück und ruft: »That's it. You found the cards from my suitcase!«
Der junge Zöllner blickt ihn etwas überrascht an und scheint kurz zu überlegen, ob er widersprechen soll.
»Are you sure?«, fragt er mit prüfendem Blick in Eriks Richtung.
»Yes of course, we need to install printers for the plant to document the protocols!«, versucht Erik etwas mehr Plausibilität in die Geschichte zu bekommen. Der Zöllner liest noch einmal die Beschreibung im Katalog und da dort bestätigt wird, dass diese Karten für Drucker vorgesehen sind, notiert er sich die Daten und Preise auf einem kleinen Notizblock.
Anschließend darf Erik die Gegenstände wieder in die Koffer packen und folgt dann Anil zu einem Büro, in dem der junge Zöllner einige Formulare ausfüllt. Nachdem Erik und Anil die Formulare unterschrieben haben, erklärt ihm Anil, dass Erik die Koffer mitnehmen kann, er aber seinen Reisepass als Pfand hier lassen muss. Anil wird am nächsten Tag wiederkommen und erfahren, wie hoch die Strafe ist. Wenn die bezahlt ist, bekommt er auch den Reisepass wieder. Etwas zögerlich übergibt Erik seinen Pass und verlässt dann mit Anil das Zollgebäude. Die Prozedur hat nur eine Stunde gedauert und Erik ist froh, dass er nun endlich wieder ins Hotel kann. Die Fahrt zurück geht wie gewohnt schleppend voran, so dass sie nach einer weiteren Stunde wieder im Hotel sind. Sofort kümmern sich wieder die Angestellten um die Koffer und bringen sie nach einem kurzen Hinweis von Anil in einen Raum neben dem Empfangsdesk, der als Lager für Koffer gedacht ist. Anschließend übergibt er Erik die Bahnfahrkarte und erklärt, dass er neben dem Gepäck aus dem Zoll, noch fünf weitere Kisten zur Baustelle mitnehmen soll. Etwas verwundert schaut Erik ihn an. »How shall I handle all this?«, fragt er Anil.
»No problem, Sir, we will arrange everything! Trust me.«, erklärt Anil, als er sieht, dass Erik seine Stirn runzelt. »I show you the luggage«.
Erik betritt mit Anil den Gepäckraum im Hotel, um sicherzustellen, dass er auch weiß, um welche Kisten und Koffer es sich handelt. Das Hotel scheint so etwas gewohnt zu sein. In dem Nebenraum, gleich hinter der Rezeption ist Erik dann doch von der Menge Gepäck überrascht, die er mitnehmen soll. Dabei handelt es sich um eine Reihe silberfarbener Blechkisten. Als Erik versucht, eine anzuheben, stellt er fest, dass dies durch einen Mann kaum zu schaffen ist. Na, das wird noch ein Spaß, das alles heute Abend zum Bahnhof zu bringen, malt er sich aus. Der Zug soll gegen acht Uhr am Abend abfahren. Bis dahin hat Erik noch etwas Zeit, um sich auszuruhen. Außerdem wollte er ja noch etwas Essen.
In dem »International Restaurant« neben der Lobby studiert Erik die Speisekarte und stellt fest, dass man neben wenigen traditionellen indischen Gerichten auch etliche anbietet, die europäisch anmuten. Erik findet, dass er heute genug Eindrücke des Landes gesammelt hat und bestellt sich ein Putensteak mit Pommes und ein Bier.
Erik hatte Anil gefragt, wann er denn vom Hotel aufbrechen soll, um rechtzeitig am Bahnhof zu sein. Die Fahrt dauert maximal 15 Minuten, hat ihm Anil erklärt. So steht er also um sieben Uhr am Abend in der Lobby, um auszuchecken und den Transport der vielen Gepäckstücke zu organisieren. Doch die Sorgen, die Erik anfangs noch wegen des Transports hatte, sind unbegründet. Nach einem Hinweis beim Concierge, dass das Gepäck zum Bahnhof soll, eilen vier Angestellte des Hotels herbei, die alles organisieren, ohne dass Erik auch nur einen Finger krumm machen muss. Sofort sind drei Taxen organisiert, ohne dass Erik zum Taxi-Desk gehen musste und mit dem Gepäck beladen. Erik steht fasziniert daneben und wundert sich, wie sich das Problem regelrecht in Luft auflöst. Indien hat einfach genug Hände, die anpacken können. Wer das nötige Kleingeld hat, kann sich sein Leben schon recht bequem einrichten. Nach einer kurzen Fahrt erreicht die Karawane den Bahnhof. Es ist einer der größeren Bahnhöfe in Delhi. Auf der Fahrt dahin überlegt Erik, wie das nächste Problem zu lösen ist: nämlich die ganzen Koffer und Kisten an den richtigen Bahnsteig zu bringen. Anil hat ihm erklärt, dass er mit dem Deradhun Express fahren wird und dass am Bahnhof Träger sind. Die langen Verbindungen haben einen eigenen Namen. Dieser Zug fährt von Deradhun über Delhi nach Mumbai und nennt sich daher Deradhun Express. Die Entfernung beträgt knapp 1.700 km und er muss irgendwo in etwa der Hälfte der Strecke aussteigen. Doch die Frage der Träger löst sich schnell. Kaum hat das Taxi vor dem Bahnhof gehalten, erscheinen schon die Kofferträger. Zu erkennen sind die organisierten und offiziellen Träger an einem Messingreifen am Oberarm. Dieser Messingreifen ist quasi der Dienstausweis. Auch hier herrscht wieder eine klare Hierarchie. Der Chef einer Gruppe fragt Erik nach dem Ticket. Erik hält dem vermeintlichen Chef sein Ticket entgegen und zeigt gleichzeitig auf die drei Taxen. Erik geht nicht davon aus, dass der Träger Englisch spricht, den Sinn von »O, K.?« mit einem fragenden Blick sollte man aber international verstehen. Der Träger antwortet immer wieder mit einem Kopfwackeln. Es war nicht das Kopfschütteln, was in Europa als Nein gedeutet wird, sondern ein merkwürdiges seitwärtiges Wackeln des Kopfes von rechts nach links. Die Feinheit zwischen einem Ja-wackeln und einem Nein-wackeln kann Erik noch nicht erkennen, so dass er unsicher ist, ob der Trägertrupp wirklich verstanden hat, worum es geht. Für den Chef scheint die Sache aber doch klar zu sein. Er hat angesichts der Gepäckmenge beschlossen, dass er noch eine zusätzliche Gang benötigt und winkt einer anderen Gruppe zu, die sofort dazu kommt. Die zwei Chefs der jeweiligen Clans liefern sich ein kurzes, aber lautes Wortgefecht, was vermutlich die Bezahlung betrifft. Schließlich scheinen sie sich aber handelseinig geworden zu sein. In atemberaubender Geschwindigkeit schnappen sich die Träger die Koffer und Kisten, stapeln alles auf ihren Köpfen und marschieren als menschliche Karawane durch das Gewühl. Etwas unsicher stapft Erik hinterher und fragt sich, ob das alles auch so richtig ist. Kann man den Leuten trauen? Werden sie Erik im Bahnhof tatsächlich an den richtigen Bahnsteig führen oder ist Erik jetzt einer Verbrecherbande ausgeliefert, die mit ihm um die Ecke geht, um ihn auszurauben? Werden auch alle Kisten ankommen, oder reißen sie sich irgendeine Kiste unter den Nagel?
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