»Mr., one Rupee, please! Please Mr., only one Rupee!« Kaum dass Erik das Taxi verlassen hat, stehen vier kleine, verdreckte Kinder vor ihm und strecken ihm ihre Händen entgegen. Instinktiv steckt er seine Hände in die Hosentaschen, um seine Wertsachen und sein Geld zu sichern. Erik hatte kurz zuvor gelesen, dass erfolgreiche Bettelkinder mehr Geld nach Hause bringen, als der Vater mit ehrlicher Arbeit verdienen kann. Ausländer haben kein Verhältnis zur Kaufkraft des Geldes und verteilen daher viel zu hohe Beträge. Die Empfehlung lautet daher, Kindern auf keinen Fall etwas zu geben. Diese sollen lieber in die Schule gehen.
Erik fällt ein kleiner Junge von vielleicht zehn Jahren auf, der sich auf eine Krücke stützt. An seinem rechten Bein fehlt der Fuß. Der Stumpf sieht frisch verbunden aus. Ihm kommen Geschichten in den Sinn, nach denen Kinder der Bettelkaste mutwillig verstümmelt werden, um durch den höheren Mitleidsfaktor bessere Ergebnisse beim Betteln zu erzielen. Für einen Außenstehenden ist es nicht nachvollziehbar, ob ein Unfall oder eine mutwillige Verstümmlung zu dem Gebrechen geführt hat? Erik befindet sich in einem argen Gewissenskonflikt. Selbst für den Fall, dass es mutwillig war, wäre es moralisch gerechtfertigt, diesem armen Kind etwas zu geben, da diese Verstümmlung mit Sicherheit nicht seine Idee war. Auf der anderen Seite würde man damit aber dieses widerliche System unterstützen, da es ja die gewünschte Wirkung in Form einer Spende erzielt. Das Ergebnis sind weitere verstümmelte Kinder. So schwer es Erik auch fällt, wendet er sich ab und entscheidet sich dafür, nichts zu geben.
In den Prospekten hat er etwas von der »Connaught Place Mall« gelesen, in der es alles zu kaufen geben soll. Er blickt sich um, um den Weg zu finden und wandert dann auf ein vielversprechendes Gebäude zu. Dabei fällt ihm ein kleines Mädchen auf, dass ihm beharrlich die ganze Zeit folgt und ihn immer wieder mit demselben Satz anspricht: »Why don’t you help me?« Sie blickt ihn mit großen dunklen Kinderaugen an, wobei die Haare verfilzt, dreckig und ungeordnet in alle Richtungen zielen. Indien ist einfach brutal. Sobald man einen Fuß vor die Tür setzt, wird man unweigerlich mit dem Elend dieser Welt konfrontiert. Nicht allmählich, sondern so, als ob man von der Reling eines Schiffes in den kalten Ozean gestoßen wird. Wo man gerade noch warm und trocken das Leben genießen konnte, watet man im nächsten Augenblick durch Menschen, die um ihr Leben kämpfen. Welche Chancen hat dieses kleine Kind? Die Perspektive, jemals dem Elend zu entrinnen, ist praktisch nicht gegeben. Als Erik dann auch noch in die hilflosen Kinderaugen schaut, ist sein Wille gebrochen. Obwohl er hundertprozentig davon überzeugt ist, dass sie einem professionellen Bettlerclan angehört, bei der selbst die indische Regierung um Zurückhaltung bittet, gibt er ihr einen Rupee. »Gebe ich nichts, fühle ich mich schlecht, gebe ich etwas, fühle ich mich auch nicht besser, aber auch nicht schlechter. Dieses Land kann einen moralisch zu Grunde richten.«, stellt Erik für sich fest.
So richtig genießen kann Erik den Ausflug nicht. Es sind so viele Menschen auf den Wegen unterwegs, dass man fast ständig gegen einen anderen stößt. Man bewegt sich mit der Masse langsam vorwärts, wobei es Erik schwer fällt, stehen zu bleiben, um die Auslagen in den Schaufenstern zu betrachten. Auch vor dem Eingang zu der Mall befindet sich eine große Menschentraube, die sich langsam in das Gebäude bewegt. Angesichts der Massen beschließt Erik, nicht in das Gebäude zu gehen. Immerhin weiß er jetzt, wo Mac Donalds und die Büros der Fluggesellschaften zu finden sind. Sein Magen knurrt langsam und irgendwie zehrt die Stadt an seinen Nerven. Er findet es interessant, aber leben möchte Erik hier nicht. Also beschließt er, dass etwas Abstand und Erholung in dem Paralleluniversum des Hotels deutlich angenehmer sind. Er ist vielleicht 15 Minuten mit den Massen gewandert, so dass er nun stehen bleibt, um den Ort zu suchen, an dem das Taxi stehen sollte. Plötzlich steht ein zerlumpter Mann vor ihm, der sich auf eine Krücke stützt, die bis unter seine Achsel reicht. Seine Hand, die er ihm entgegenstreckt, ist nur noch ein Stumpf ohne Finger. »Lepra!«, durchfährt es Erik. Er hat von dieser Krankheit in der Schule gehört, derartiges jedoch noch nie zuvor gesehen. Dieser arme Mensch hat an beiden Händen keine Finger mehr, sondern nur noch Stümpfe. Dieser Anblick überfordert ihn. Er blickt diesen Menschen mit Entsetzen an und versucht den bettelnd ausgestreckten Armstümpfen auszuweichen. Als Erik versucht, sich an ihm vorbei zu schlängeln, indem er sich zur Straße dreht, spürt er einen Schlag in den Rücken. Es ist nicht so, dass es körperlich schmerzte. Dieser Schlag, in dem eine Verzweiflung und vielleicht auch eine Wut über die Ungerechtigkeit der Welt liegt, trifft ihn viel tiefer. Dieser Schlag trifft seine Seele. Erik hat das Gefühl, dass er die Kontrolle verliert, so dass leichte Panik in ihm aufsteigt. In seinem Leben ist er doch der Regisseur. Diese Szene hat er jedoch weder geplant noch so erwartet. Mit einem Mal ist er nur noch ein Statist in diesem grausamen Film, über den ein anderer Regie führt. Erik ist in diesem Moment unfähig, sich dem armen Teufel zu stellen und ihm etwas zu geben. Er war bisher in der Lage, das Elend um sich herum irgendwie auf Distanz zu halten. Es war eher so, wie ein Film im Fernsehen, den er sich ansehen konnte. Er konnte bisher ausblenden, dass er selbst beteiligt war und Einfluss auf das Geschehen um ihn herum nehmen kann. Mit diesem Schlag in den Rücken steht er jedoch mitten in dieser nackten und erbarmungslosen Existenz als beteiligter Darsteller, von dem verlangt wird, dass er Notiz nimmt. Unfähig, sich der Situation zu stellen, flüchtet Erik mehr stolpernd als gehend in Richtung des wartenden Taxis und ist froh, als sich die Tür hinter ihm schließt. Er ist eher mental erschöpft, wie nach einer Niederlage oder nach einem Verlust. Er war nicht mehr Herr der Situation und war vor allem von seiner eigenen Reaktion überrascht. Er möchte jetzt nur noch zurück ins Hotel. Der Appetit ist ihm gründlich vergangen. Er fühlt sich einfach nur noch schlecht.
Auf der Rückfahrt in das Hotel fällt ihm auf, dass wohl nur die Hauptstraßen asphaltiert sind. Viele der Nebenstraßen scheinen nur aus einem fest gestampften Lehmboden zu bestehen. Erik überlegt, wie die Zustände wohl während der Monsunzeit sind, wenn alles im Schlamm versinkt. Eine schwierige Situation auch für die vielen kleinen Geschäfte, die auf ihren Karren den Straßenrand wie eine Perlenkette säumen. Ein Platz auf dem Bürgersteig oder eine Fensternische reichen aus, um die wenigen Waren anzubieten. Das Sortiment reicht von lediglich drei Apfelsinen, die ein Inder mit nur einem Zahn auf einer abgerissenen Pappe eines Kartons anbietet, über Feuerzeuge, Brillen, Uhren, Bücher und Zeitschriften bis zu Dienstleistungen wie rasieren und Haare schneiden. Selbst ein Stand für Kataloge, der unter anderem einen deutschen Quelle-Katalog anbietet, kann Erik entdecken. Vermutlich sind die Verkaufsflächen auch organisiert, überlegt Erik. Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, dann versucht man halt etwas zu verkaufen. Von dem, was man auf einem Quadratmeter anbieten kann, wird man sicher nicht reich.
Vor einem Haus sieht Erik ein etwa drei Meter hohes Riesenrad, an dem vier Körbe befestigt sind. In jedem der Körbe sitzt ein strahlendes Kind und lässt sich durch die Muskelkraft des Betreibers im Kreis drehen. Als das Taxi vorbeifährt, erkennt Erik, dass das Karussell auf Rädern steht, so dass der Betreiber damit zu seinen Kunden fahren kann. Solch eine Fahrt für Kinder kann nun wirklich nicht viel kosten. Selbst wenn er den ganzen Tag voll ausgelastet ist, wird es dem Besitzer vielleicht gerade einmal umgerechnet einen Euro einbringen. Es wundert Erik, dass die Menschen von dem geringen Einkommen überhaupt leben können und vor allem sicherlich auch noch eine Familie ernähren müssen. Erik lehnt sich zurück und ist froh, dass seine eigenen Startbedingungen in seinem Leben deutlich besser waren.
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