Das Buch über Alchimie, mit dem zerrissenen Einband, welches sie gekauft hatte, musste sie weglegen. Denn sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Mit einem Mal überfiel sie eine bleierne Müdigkeit. In dieser Nacht träumte die junge Frau wieder von den Tempeln.
Am nächsten Tag ging sie aufs Präsidium, um eine Täterbeschreibung abzugeben und Anzeige gegen Unbekannt zu erstatten. Danach kaufte sie sich das Flugticket nach Kairo.
Am Abend setzte sie sich ans Meer. Es herrschte starker Wind. Die Wellen waren voller Schaumkronen.
In drei Tagen ging ihr Flug. Von Kairo aus würde sie den Bus nach Luxor nehmen. Das war günstiger als einen Direktflug nach Luxor zu nehmen.
Es war Vollmond. Die junge Frau blieb den Rest des Abends auf dem Felsen sitzen, blickte über das Meer und lauschte seinem Rauschen und das Meer lauschte ihrer Angst. Beide sprachen sie dieselbe Sprache.
Von hier oben hatte sie einen guten Überblick über Málaga und die Meeresenge von Gibraltar in der Ferne. Da bemerkte sie den Falken, der über ihrem Kopf seine Runden zog.
Ein paar Meter weiter südlich am Meer saß der Araber. Er hatte ein Pferd dabei. Er betrachtete den Vollmond. Wie gerne hätte er nach dem Elixier des ewigen und glücklichen Lebens gesucht. Doch die Zeichen sagten ihm, es sei noch zu früh dafür. Erst musste er seine Aufgaben erledigen.
Er überlegte, warum die Menschen sich so schwer damit taten, den Zeichen zu folgen. Doch er kam zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis. Vielleicht hatten sie es verlernt, auf ihre Intuition zu hören. Dann beschloss er sich wieder auf die praktischen Dinge zu konzentrieren.
Er wusste, dass er in diesen Tagen auf eine Frau treffen würde, der er einen Teil seiner Geheimnisse anvertrauen sollte. Die Zeichen hatten es ihm bereits vorausgesagt. Er kannte diese Frau zwar noch nicht, doch seine erfahrenen Augen würde sie sogleich erkennen, wenn er sie zu Gesicht bekam. Er hoffte, dass sie auch eine so gelehrige Schülerin sein würde, wie sein letzter Schüler.
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Die junge Frau begann in dem Buch über Alchimie zu lesen. Dort gab es ein Kapitel über Träume. Sie hatte eine Taschenlampe dabei, denn das Mondlicht reichte nicht aus, um zu lesen. Als sie sich endlich konzentrieren konnte und in die Lektüre vertieft hatte, nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr.
Plötzlich vernahm sie ein Donnergrollen und sie wurde von einem Windstoß von ungeahnter Kraft zu Boden geworfen. Um sie herum war eine riesige Staubwolke, die den Mond verdeckte.
Vor ihr tauchte ein schwarzes Pferd auf, das ein unheimliches Wiehern ausstieß. Die junge Frau konnte kaum etwas erkennen. Aber eine Angst überwältigte sie, wie sie sie noch nie gekannt hatte.
Der fremde Reiter war ganz in schwarze Gewänder gehüllt. Er trug ein schwarzes Tuch um den Kopf, das nur die Augen frei ließ. Seine Ausstrahlung war stärker, als die aller Personen, die sie kannte. Der Reiter zog sein gebogenes Schwert, das am Sattel befestigt war, hervor. Der Stahl leuchtete im Mondlicht auf.
„Wer wagt es, mich herauszufordern und Träume deuten zu wollen?“, fragte er mit einer gewaltigen Stimme, die zwischen den hunderttausend Häusern von Málaga widerzuhallen schien.
Der jungen Frau hatte es vor Schreck die Sprache verschlagen. Sie brauchte einen Moment, um ihre Stimme wiederzufinden.
„Ich wage es“, sagte sie.
„Warum?“
„Um Träume zu deuten, muss man die Alchimie beherrschen. Das steht in dem Buch geschrieben. Also muss ich die Alchimie lernen.“
"Wer bist Du, um Träume deuten zu wollen?"
"Eine Suchende. Ich muss nach Ägypten."
„Wozu?“, fragte der geheimnisvolle Reiter.
„Ich hatte einen wiederkehrenden Traum von einem Schatz, der in Ägypten liegt." Sofort bereute sie es, den Schatz erwähnt zu haben.
Doch der Araber schwieg.
Die Hand mit dem Schwert senkte sich langsam herunter bis die Schwertspitze die Stirn der jungen Frau berührte. Sie war so scharf, dass ein Blutstropfen heraustrat.
Die junge Frau blieb unbeweglich.
Der Reiter ebenfalls.
„Wer bist Du um das von Gott vorbestimmte Schicksal ändern zu wollen?“
„Ich habe lediglich gesehen, was Gott mir mitteilen wollte. Gott hat das Meer gemacht und die Sterne. Gott hat die Träume erschaffen. Alles wurde von derselben Hand erschaffen. Ich hatte einen seltsamen Traum.“ Und ohne es zu wollen, erzählte sie dem Fremden von ihrem Traum.
Langsam entfernte der Reiter die Schwertspitze von ihrer Stirn.
Die junge Frau fühlte sich erleichtert, aber sie vermochte nicht zu fliehen.
„Sei vorsichtig mit der Traumdeuterei. Nur die wenigsten können die Sprache der Zeichen richtig deuten.“
„Ich sah lediglich einen Ort, an den ich gehen muss, nicht aber den Ausgang des Traumes“, fügte sie rasch hinzu.
Nun schien der Reiter zufrieden mit der Antwort. „Wenn Du morgen um dieselbe Zeit immer noch nach einem Schatz suchst, dann besuche mich“, sagte der Araber. Dieselbe Hand die das Schwert geschwungen hatte, schwang jetzt eine Peitsche.
„Wo soll ich Dich besuchen?“, rief die junge Frau hinter dem entschwindenden Reiter her. Die Hand mit der Peitsche zeigte gen Süden. Und der Reiter verschwand. Die junge Frau war dem Bruder des Alchimisten begegnet.
Am folgenden Abend, noch bevor der Mond aufging, erschien die junge Frau am Ufer, an derselben Stelle, an der sie am vorigen Tag den fremden Reiter getroffen hatte. Sie ging in Richtung Süden. Dort gab es nur eine Hütte. Es musste die Hütte des Arabers sein. Sie wartete ein bisschen bis dieser mit dem Falken auf der Schulter angeritten kam.
Er hatte ein zweites Pferd dabei. „Nun zeig mir das Gold von Spanien“, sagte der Fremde. „Nur wer Mut und Ausdauer beweist, kann Schätze finden.“
Sie ritten am Ufer entlang, das vom Vollmond beleuchtet war.
‚Ich weiß nicht ob ich Gold finden werde. Ich habe noch nie von Goldvorkommen in Spanien gehört‘, dachte die junge Frau. ‚Außerdem kenne ich die Region außerhalb von Málaga kaum.‘ Doch sie sprach es nicht aus, denn sie fürchtete sich vor dem Araber.
„Ich kann kein Gold entdecken“, sagte die junge Frau, nachdem sie eine halbe Stunde lang am Ufer entlang geritten waren. „Zwar weiß, dass es das gibt, aber ich kann es nicht entdecken.“ In Wahrheit war sie sich nicht einmal ganz sicher, ob es hier Gold gab.
„Es ist nicht alles Gold was glänzt“, bemerkte der Araber.
Und die junge Frau verstand. Sogleich ließ sie die Zügel ihres Pferdes locker und trieb es an. Der Alchimist folgte ihr ohne etwas zu sagen.
Sie konnten Málaga schon nicht mehr sehen, nur den riesigen Mond am Himmel und die Berge in der Ferne, die im Mondlicht silbrig leuchteten. Nach einer halben Stunde erreichten sie eine Anhöhe.
Plötzlich an einem Ort an dem sie noch nie gewesen war, merkte sie, wie ihr Pferd stehen geblieben war. Sie stieg ab.
„Hier gibt es ein Salzbergwerk“, meinte die junge Frau an den Araber gewandt. „Ich war zwar noch nie hier. Aber an diesem Ort wird Salz abgebaut.“ Sie deutete auf das Schild, das ein paar Meter nördlich in den Himmel ragte. „Wir sind in der Lagune Fuente de Piedra. Hier wird das weiße Gold abgebaut.“
Der fremde Reiter sagte nichts. Er stieg von seinem Pferd ab und beobachtete die Steine am Boden während er langsam vorwärts ging.
Mit einem Mal blieb er stehen und bückte sich. Im Boden zwischen den Steinen war ein Loch: Der Reiter steckte erst seine Hand hinein, dann den ganzen Arm bis zur Schulter. Die Augen des Arabers verengten sich vor Anspannung und Anstrengung. Mit einer ruckartigen Bewegung, die die junge Frau erschreckte, zog er den Arm heraus und erhob sich.
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