Unsere täglichen Bedürfnisse werden durch die Güte anderer gestillt. Aus unseren früheren Leben haben wir nichts mit uns gebracht. Trotzdem gab man uns sofort nach unserer Geburt ein Heim, Essen, Kleidung und alles, was wir sonst noch brauchten – alles durch die Güte anderer. Alles, woran wir uns jetzt erfreuen, wurde durch die vergangene oder gegenwärtige Freigebigkeit anderer Wesen ermöglicht. Wir können viele Dinge gebrauchen und nutzen, ohne selbst viel dazu beigetragen zu haben. Denken wir nur an Einrichtungen wie Straßen, Häuser, Autos, Züge, Flugzeuge, Schiffe, Restaurants, Hotels, Bibliotheken, Museen und Läden, dann wird uns klar, dass viele Leute hart arbeiten und große Entbehrungen ertragen mussten, um all dies zu erschaffen. Wir könnten denken, dass es nicht an der Güte der anderen liegt, dass wir diese Dinge nutzen können, sondern weil wir dafür bezahlen. Doch wo kommt das Geld her? Es fällt nicht vom Himmel oder wächst auf Bäumen. Es wurde von anderen geschaffen. Vielleicht haben wir aber immer noch das Gefühl, dass uns das Geld nicht geschenkt, sondern dass es durch unsere harte Arbeit erworben wurde; aber auch unsere Arbeit wird durch andere ermöglicht. Jemand muss uns einstellen oder Geschäfte mit uns machen. Eine Arbeit oder ein Geschäft zu haben ist wie Geld zu haben.
Wenn wir dies sorgfältig überprüfen, wird uns klarer werden, wie uns andere durch ihre Güte helfen. Nachdem wir es auf diese Weise geprüft haben, sollten wir zu dem Schluss kommen: «Ich muss andere Wesen schätzen, weil sie so gütig sind.» Mit diesem Entschluss sollten wir versuchen, eine Geisteshaltung zu erzeugen, die alle Wesen gleichermaßen liebt, und dann halten wir diese liebende Geisteshaltung in einsgerichteter Meditation.
Wenn wir gründlich darüber nachdenken, werden wir auch verstehen, dass all unser gegenwärtiges und zukünftiges Glück von unserer Wertschätzung für andere abhängt. Wie kommt das? In vergangenen Leben haben wir es vermieden, diejenigen, für die wir sorgten, zu verletzen, zu töten oder zu bestehlen, und wir waren großzügig und geduldig mit ihnen, weil wir sie liebten, und als Ergebnis dieser positiven Handlungen haben wir jetzt dieses kostbare menschliche Leben erlangt. Manchmal haben wir anderen in der Vergangenheit auch geholfen oder sie beschützt, weil wir um sie besorgt waren, und infolgedessen erhalten wir jetzt Hilfe und genießen erfreuliche Lebensumstände.
Wenn wir in diesem Leben aufrichtig das Wertschätzen anderer praktizieren, werden wir die vielen Probleme unserer Wut, Eifersucht und dergleichen lösen, und unser Geist wird stets ruhig und friedvoll sein. Das Wertschätzen anderer bringt ihnen Glück und verhindert Streit und Auseinandersetzungen. Wenn wir andere Wesen schätzen, werden wir es vermeiden, ihnen durch negative Handlungen Schaden zuzufügen. Stattdessen werden wir uns in positiven Handlungen wie Liebe, Geduld und Freigebigkeit üben und somit die Ursachen erzeugen, in der Zukunft glücklich und zufrieden zu sein. Wenn wir außerdem das Wertschätzen anderer zu unserer Hauptpraxis machen, werden wir nach und nach großes Mitgefühl und Bodhichitta entwickeln. Schließlich werden wir das endgültige Glück der großen Erleuchtung erlangen.
Durch solche Überlegungen werde wir zu dem folgenden Entschluss gelangen: «Ich muss andere Wesen immer schätzen, denn diese kostbare Geisteshaltung der Liebe wird mir selbst und anderen Glück bringen.» Dann halten wir diesen Gedanken fest und meditieren über ihn so lange wie möglich mit einsgerichteter Konzentration. Während der Meditationspause sollten wir versuchen diese Geisteshaltung stets zu bewahren, ganz gleich was wir tun.
Es ist sehr wichtig, alle heiligen erleuchteten Wesen um ihre Segnungen zu bitten, damit wir die Erfahrung des kostbaren Geistes gewinnen, der alle Lebewesen schätzt. Dazu können wir das folgende Gebet aus Darbringung an den Spirituellen Meister rezitieren:
Da ich sehe, dass der Geist, der Mutterwesen schätzt und der bestrebt ist, ihr Glück zu sichern,
Das Tor ist, das zu unendlich guten Qualitäten führt,
Erbitte ich Deine Segnungen, um diese Wesen mehr als mein Leben zu lieben,
Sogar wenn sie sich als Feinde gegen mich erheben.
MEDITATION ÜBER DAS AUSTAUSCHEN VOM SELBST MIT ANDEREN
Die vielen Gefahren der Selbst-Wertschätzung und die vielen Vorteile, andere zu schätzen, werden hauptsächlich deshalb erklärt, weil wir durch das wiederholte und sorgfältige Nachdenken über diese Punkte fähig sein werden, das Selbst mit anderen auszutauschen. Das Austauschen vom Selbst mit anderen bedeutet nicht, dass wir jemand anders und die anderen wir selbst werden. Was wir austauschen, ist das Objekt unserer Wertschätzung. Gegenwärtig sind wir selbst das Objekt unseres Geistes der Selbst-Wertschätzung, doch wenn wir das Selbst mit anderen austauschen, werden andere Wesen das Objekt unserer Wertschätzung sein.
Wir müssen das Selbst mit anderen austauschen, weil die Selbst-Wertschätzung die Wurzel aller unserer Probleme ist, während die Geisteshaltung, die andere schätzt, die Quelle alles Guten ist. Durch diese Praxis werden wir vorübergehendes und endgültiges Glück finden. Im Leitfaden für die Lebensweise eines Bodhisattvas sagt Shantideva:
Die Kindischen arbeiten nur für sich selbst,
Während die Buddhas nur für andere arbeiten –
Schau bloß auf den Unterschied zwischen ihnen!
Die «Kindischen» bezieht sich hier auf gewöhnliche Wesen, die durch Eigeninteresse motiviert, nichts außer Leiden erreichen, während die Buddhas, die ständig für andere arbeiten, Buddhaschaft erlangt haben und völlig frei von Leiden sind. Diesen Unterschied erkennend, sollten wir beschließen, andere Wesen mehr als uns selbst zu schätzen, weil es notwendig ist, dass wir Erleuchtung erlangen.
Wir sollten uns nicht dadurch entmutigen lassen, dass wir denken, das Austauschen vom Selbst mit anderen sei zu schwierig für uns. Shantideva sagt im Leitfaden für die Lebensweise eines Bodhisattvas, dass selbst extrem schwierige Dinge, wie das Wertschätzen unseres erbittertsten Feindes, durch die Kraft der Vertrautheit leicht werden. Deshalb werden wir durch aufrichtige und geduldige Praxis mit Sicherheit schließlich das Selbst mit anderen austauschen können.
Der Körper, den wir jetzt so schätzen, gehört uns eigentlich überhaupt nicht, sondern entstand aus einer Mischung aus dem Sperma unseres Vaters und der Eizelle unserer Mutter. Wir betrachten ihn aber trotzdem als unseren Körper, weil wir so vertraut mit ihm sind. Genauso wie wir uns daran gewöhnt haben, diesen Körper als unseren eigenen zu schätzen, obwohl er in Wirklichkeit unseren Eltern gehört, so können wir auch andere Wesen als unser Objekt der Wertschätzung nehmen. Allmählich können wir dann mit dieser Vorstellung vertraut werden, bis es für uns durch die Kraft völliger Vertrautheit leicht wird, andere statt uns selbst zu schätzen.
Wir können meinen eigenen Fall als Beispiel nehmen. Als ich ein acht Jahre alter Novizenmönch war, schätzte ich den Körper des Novizenmönches. Als ich im Alter von einundzwanzig Jahren ein voll ordinierter Mönch wurde, schätzte ich den Körper eines jungen voll ordinierten Mönches. Wenn ich achtzig Jahre alt sein werde, werde ich den Körper eines alten voll ordinierten Mönches schätzen. Wir meinen, dass der beobachtete Körper der gleiche bleibt, doch das tut er nicht. Als ich ein Mönch wurde, verschwand der Körper des Laienjungen. Jahr für Jahr ändert sich das Objekt der Wertschätzung, und weil sich das Objekt ändert, ändert sich auch der Gedanke «ich». Die Person des letzten Jahres beispielsweise ist jetzt völlig verschwunden. Da sich das Objekt unserer Wertschätzung ganz natürlich auf diese Weise ändert, gibt es keinen Grund, warum wir nicht das Objekt unserer Wertschätzung gegen andere Lebewesen austauschen können. Die Entwicklung eines Geistes, der andere schätzt, hängt von Bemühen, Vertrautheit und Übung ab.
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