6. Die Verpflichtungen der Geistesschulung
7. Die Grundsätze der Geistesschulung
Der erste Punkt, die vorbereitenden Übungen, umfasst die Vorbereitung auf das Ausüben des hauptsächlichen Weges zur Erleuchtung und der zweite Punkt ist der hauptsächliche Weg selbst. Die fünf restlichen Punkte sind die Methoden, mit denen der hauptsächliche Weg vollendet wird.
Die Möglichkeit, diese kostbaren und tiefgründigen Unterweisungen praktizieren zu können, hat eine unendlich viel größere Bedeutung als alle kostbaren Juwelen der Welt geschenkt zu bekommen. Wenn wir verstehen, wie äußerst wertvoll es ist, diesen außergewöhnlichen Dharma zu lesen, Unterweisungen darüber zu hören, ihn zu studieren, darüber nachzudenken und die Praxis auszuüben, so werden wir es mit großem Vertrauen und einem freudigen Geist tun.
Geshe Kelsang Gyatso,
Tharpaland,
November 1987
Die Überlieferungslinie und die Qualitäten der Geistesschulung
DIE ÜBERLIEFERUNGSLINIE UND DIE HERAUSRAGENDEN QUALITÄTEN DIESER UNTERWEISUNGEN
Die Unterweisungen über die Geistesschulung stammen ursprünglich von Buddha Shakyamuni. Er gab sie an Manjushri weiter, der sie Shantideva übermittelte. Von Shantideva gelangten sie in ununterbrochener Folge zu Elladari, Viravajra, Ratnashri, Serlingpa, Atisha, Dromtönpa, Geshe Potowa, Geshe Sharawa und Geshe Chekhawa. Geshe Chekhawa verfasste den Text Geistesschulung in sieben Punkten und verbreitete das Studium und die Praxis der Geistesschulung in ganz Tibet. Er gab die Unterweisungen an den Bodhisattva Chilbuwa weiter und von ihm gelangten sie durch eine Folge verwirklichter Meister zu Je Tsongkhapa.
Aus den Aufzeichnungen der Schüler Geshe Chekhawas wurden verschiedene Versionen des Urtextes Geistesschulung in sieben Punkten zusammengestellt. Später gab Je Tsongkhapa Unterweisungen über die Geistesschulung in sieben Punkten. Ohne anderen Quellen zu widersprechen, erläuterte er die Bedeutung dieser Unterweisungen in Übereinstimmung mit den Sichtweisen und Absichten Geshe Chekhawas und Atishas. Die Aufzeichnungen von Je Tsongkhapas Schülern wurden in einem Text gesammelt, der als Sonnenstrahlen der Geistesschulung bekannt ist und als einer der maßgeblichsten Kommentare der Geistesschulung gilt. Die in diesem Buch verwendete Version des Urtextes wurde von Je Phabongkhapa auf der Basis der Sonnenstrahlen der Geistesschulung, Essenz des Nektars der Geistesschulung und anderer Texte zusammengestellt. Somit sind die Unterweisungen der Geistesschulung von Je Tsongkhapa in ungebrochener Überlieferungslinie bis zu den heutigen Lehrern weitergegeben worden.
Ehre dem großen Mitgefühl.
Diese Essenz der nektargleichen Unterweisungen
Wurde von Serlingpa überliefert.
Geshe Chekhawa beginnt seinen Urtext damit, dass er dem großen Mitgefühl Ehrerbietung erweist. Er will uns damit zeigen, dass jeder, der ein Buddha oder Bodhisattva werden will, Mitgefühl als seine Hauptpraxis betrachten muss, da alle Buddhas und Bodhisattvas aus der Mutter, dem großen Mitgefühl, geboren werden.
Die zweite Zeile vergleicht die Unterweisungen der Geistesschulung mit Nektaressenz. Der Nektar, den Götter oder manche Menschen genießen, erzeugt nur gewöhnliches Glück. Die Anweisungen der Geistesschulung hingegen können uns die außergewöhnliche Glückseligkeit der vollen Erleuchtung bieten.
Die dritte Zeile weist darauf hin, dass von den vielen verschiedenen Anweisungen, die Atisha erhielt und über Dromtönpa und andere Lehrer an Geshe Chekhawa weitergab, diese besondere Unterweisung von seinem Spirituellen Meister Serlingpa stammt.
Es heißt, dass Geshe Chekhawa ursprünglich der alten Tradition des tibetischen Buddhismus, der Nyingma-Tradition, angehörte. Obwohl er in den Unterweisungen sowohl der alten als auch der neuen Tradition des Dharmas sehr bewandert war, befriedigte ihn seine Praxis nicht ganz. Er erbat Unterweisungen von Rechungpa, einem der Hauptschüler Milarepas, und später vom Kadampa-Lehrer Geshe Chagshinpa. Eines Tages, als er in Geshe Chagshinpas Zimmer war, fand er einen kurzen Text mit dem Titel Acht Verse der Geistesschulung. Zwei Zeilen in der sechsten Strophe fesselten seine Aufmerksamkeit:
Möge ich die Niederlage annehmen
Und anderen den Sieg anbieten.
Obwohl er bereits tiefgründiges Wissen über Dharma besaß, wurde sein Geist durch diese Worte im Innersten berührt, und um ihre wahre Bedeutung herauszufinden, fragte er Geshe Chagshinpa nach dem Namen des Autors. Geshe Chagshinpa antwortete, dass der Text von Geshe Langri Tangpa geschrieben worden war. Als Geshe Chekhawa das hörte, hatte er augenblicklich den Wunsch, Unterweisungen von Geshe Langri Tangpa zu erhalten, und machte sich unverzüglich auf den Weg nach Lhasa, wo er ihn zu finden hoffte. Als er dort ankam, erfuhr er, dass Geshe Langri Tangpa verstorben war, und so entschied er sich, einen Schüler Geshe Langri Tangpas zu finden, der ihm eine Erklärung dieser Strophe geben konnte. Er traf einen Mann aus der Provinz Lang Tang, der ihm mitteilte, dass Geshe Sharawa einer der Hauptschüler von Geshe Langri Tangpa gewesen sei. Durch diese Nachricht ermutigt, brach Geshe Chekhawa auf, um Geshe Sharawa zu finden. Als er Geshe Sharawa fand, war dieser gerade dabei, einer großen Zuhörerschaft einen Kurs über Philosophie zu geben. Geshe Chekhawa hörte den Unterweisungen zu, die mehrere Tage dauerten, aber das Annehmen der Niederlage und den Sieg anderen anbieten wurden nicht erwähnt. Nachdem die Unterweisungen geendet hatten, ging Geshe Chekhawa zu Geshe Sharawa, als dieser gerade dabei war, einen Stupa zu umschreiten. Geshe Chekhawa legte sein Gewand als Sitz auf den Boden und bat Geshe Sharawa: «Bitte setzen Sie sich eine Weile. Ich muss Sie etwas fragen.» Geshe Sharawa antwortete etwas schroff: «Ich habe eben ausführliche Unterweisungen vom Thron aus gegeben. Haben Sie sie nicht verstanden?» Geshe Chekhawa antwortete: «Ich habe eine spezielle Frage.» Da setzte sich Geshe Sharawa und Geshe Chekhawa fragte: «Wie wichtig ist die Praxis, die Niederlage anzunehmen und anderen den Sieg anzubieten?» Geshe Sharawa antwortete: «Wenn Sie Erleuchtung erlangen wollen, ist diese Praxis essentiell.» Geshe Chekhawa fragte dann, wo diese Praxis in den Schriften gelehrt wurde, und Geshe Sharawa zitierte zwei Zeilen aus Nagarjunas Kostbare Girlande von Ratschlägen an den König:
Mögen ihre negativen Taten in mir reifen
Und mögen alle meine Tugenden in ihnen reifen.
In diesen Worten ist implizit der Wunsch enthalten, selbst die Niederlage anzunehmen und anderen den Sieg anzubieten. Geshe Sharawa gab noch weitere Quellen an, die Geshe Chekhawa davon überzeugten, dass diese Unterweisungen authentisch waren. Er bat Geshe Sharawa dann, ihm die vollständigen Anweisungen zu dieser Praxis zu geben. Geshe Sharawa antwortete: «Wenn Sie für mehrere Jahre bei mir bleiben, werde ich Sie unterrichten.» Geshe Chekhawa blieb zwölf Jahre bei Geshe Sharawa, und innerhalb von sechs Jahren war er sehr geschickt darin geworden, seinen Geist zu schulen. Andere Kadampa-Geshes erkannten, dass er durch das völlige Aufgeben der Selbst-Wertschätzung den Mahayana-Pfad des Sehens erlangt hatte.
Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Anweisungen über die Geistesschulung nicht öffentlich gelehrt worden, sondern blieben eine geheime Überlieferungslinie. Da es notwendig war, ein bestimmtes Maß an Vertrauen zu besitzen, bevor man diese Unterweisungen ausüben konnte, gab Geshe Chekhawa sie zunächst nur an seine engsten und aufnahmefähigsten Schüler weiter.
Zu jener Zeit war die Lepra in Tibet weit verbreitet, denn die Ärzte konnten sie nicht heilen. Eines Tages begegnete Geshe Chekhawa einigen Leprakranken und er beschloss, sie in der Praxis der Geistesschulung, insbesondere in der Praxis des Nehmens und Gebens, zu unterrichten. Durch diese Übungen wurden viele von ihnen rasch von ihrer Lepra geheilt. Die Neuigkeit verbreitete sich schnell und viele weitere Erkrankte kamen zu Geshe Chekhawa, dessen Haus bald einem Krankenhaus glich. In der Folge waren Geshe Chekhawas Unterweisungen unter Tibetern bald als «Dharma für Lepra» bekannt.
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