Obwohl er an diesem Abend ein tapferes Gesicht aufsetzte und allen seine legendäre Unverwüstlichkeit vorspielte, hatte er doch mehr unter dem letzten Feldzug gelitten, als er offen zugeben konnte. Damit stand er offenbar nicht alleine da: Vor dem Abendessen hatte er einen kurzen Blick auf die Appellstärke seines Feldheeres zum 1. Dezember 1812 werfen können und wäre vor Schreck dabei fast umgefallen: In 64 britischen Bataillonen waren nur 30.397 Soldaten und Offiziere zum Dienst angetreten. 13 Bataillone hatten mehr kranke Männer als Soldaten unter Waffen und zwölf waren auf eine Ist-Stärke von unter 300 Mann abgefallen. Die restlichen 18.000 Leoparden bevölkerten hustend, fiebernd, mit triefenden Nasen und geschwollenen Mandeln die Lazarette bis hinunter nach Lissabon. Und selbst bei der Kavallerie plagten Grippe und Halsschmerzen 1500 Reiter, ganz abgesehen von 700 Pferden, die auch alle irgendwelche Wehwehchen hatten. Seine 15 Veterinäre waren offensichtlich genausobeschäftigt wie seine Humanmediziner. Von den Verwundeten der Schlacht bei Salamanca abgesehen, waren die Krankheiten zwar nicht ernst, aber doch ausreichend, um allen – vom Chef bis hinunter zum Trommlerjungen – eine lange, lange Ruhepause zu gönnen! Kurz vor Mitternacht verabschiedeten die Gäste sich.
John Dunn warf der ganzen Unordnung, die fast 40 Personen in dem verhältnismäßig kleinen Raum zurückgelassen hatten nur einen verächtlichen Blick zu. Das Geschirr und die Gläser würden bestimmt nicht die Flucht ergreifen, wenn er sich jetzt schlafen legte und erst morgen aufgeräumt wurde. Er schickte die Waschfrauen des Regiments in ihre Quartiere, wünschte seinem General und Lady Lennox eine gute Nacht und zog sich, zufrieden über den erfolgreichen Abend, in seine Kammer zurück.
„Endlich allein!”, seufzte Sarah. „Laß uns schlafen gehen.” Seit vielen Wochen schon hatte sie keine Gelegenheit gehabt, auch nur ein einziges Wort mit Wellington zu wechseln. Nachdem die Ärzte erfahren hatten, daß die Belagerung von Burgos ein Fehlschlag gewesen war und sowohl Arthurs als auch Hills Teilarmee sich auf die Grenze Portugals zurückzogen, war der Sanitätsdienst frenetisch damit befaßt gewesen, die Verwundeten, die in den Lazaretten um Salamanca gelegen hatten, zu evakuieren und hinter die portugiesische Grenze zu bringen.
„Hast du Lust, für vier oder fünf Wochen nach Andalusien mitzukommen, schicke Kleider auszuführen, auf ein paar Bälle zu gehen und ins Theater und in Sevilla die Reales Alcazares zu besichtigen und die Kathedrale, einen Abstecher nach Jerez de la Frontera zu machen, in der Real Escuela Andaluza de Arte Ecuestre hübsche Pferde anzuschauen, sich in der Bucht von Cadiz im warmen Wasser zu aalen ... und Henry zu besuchen?”
„Uff, das waren gerade aber mehr als vier Worte, mein Lieber! Was löst denn diese plötzliche Gesprächigkeit aus? Ich dachte, du wolltest in der Stille und Einsamkeit von Freneida über den nächsten Feldzug gegen Bonny meditieren!”
Wellington zog den Brief seines Bruders aus der Tasche und streckte ihn Sarah hin. Aufmerksam las sie die beeindruckende Auflistung iberischer Auszeichnungen und Ehrungen, die man über dem Sepoy-General ausgeschüttet hatte. Sie entlockte nur Kopfschütteln. Als die junge Frau beim Absatz über die Befehlsgewalt des Supremo Generalissimo angelangt war, wurde ihr klar, warum der General mit einem Mal, so unerwartet von der Reiselust gepackt wurde. Mitten im Winter 500 Meilen quer durch Portugal und Spanien zu reiten, war alles andere als erholsam. Die Wege waren grauenvoll, das Wetter furchterregend und es gab nichts, was Arthur so sehr verabscheute wie Trubel, Bälle, Empfänge und andere gesellschaftliche Verpflichtungen, die im Angesicht der Siegesserie von 1812 unausweichlich wurden, wenn er sich in der provisorischen Hauptstadt blicken ließ. „Wirst du den ganzen Stab mitnehmen?”, fragte sie besorgt. Die meisten seiner Offiziere standen in diesem Augenblick auch auf ihrer Krankenliste. Regen und Kälte auf dem Rückzug von Burgos hatten selbst vor den goldenen Schulterklappen nicht halt gemacht.
Der General schüttelte den Kopf: „Die sind doch alle außer Gefecht! Ich habe vorhin die Listen gesehen. Außer dem Quartett, Antonio und mir steht das ganze Hauptquartier drauf!” Einen Augenblick hielt er inne. Sein Gesichtsausdruck wurde mißtrauisch: „Sag mal, sind meine feinen jungen Herren wirklich krank, oder wollen die bloß Heimaturlaub?”
„Arthur“, sagte Lady Lennox und hatte dem General bereits prüfend die Hand auf die Stirn gelegt. Sein ständiges Husten gefiel ihr überhaupt nicht. Er hatte Fieber und die Art und Weise, wie er den ganzen Abend von einer Tischkante an die andere umgezogen war, deutete auf eine schmerzhafte Lumbago hin. „Der einzige, den ich im Moment guten Gewissens als wirklich gesund bezeichnen würde – außer deinem ausgezeichneten Sanitätsdienst natürlich – ist Jack Robertson! Die anderen habe ich auf die Liste gesetzt, obwohl sie meist laut protestiert haben. Antonio steht nicht drauf, weil er mich meidet wie die Pest, wenn ich morgens beim Appell im weißen Kittel die Runde mache! Und dich haben wir nur verschont, weil du durch acht Tage freiwilligen Aufenthalt im Bett ausreichend guten Willen und Vernunft bewiesen hast ...” Während sie sprach, nutzte sie die Gelegenheit zu einer kurzen Untersuchung, die Wellington ausnahmsweise widerstandslos über sich ergehen ließ. „Also, wenn du morgen losreiten willst“, sie schüttelte den Kopf, „dann kommst du nicht weit! Auf den ersten Blick würde ich sagen: Schwere Bronchitis, Fieber, allgemeiner Erschöpfungszustand, Lumbago und die Rippen von Talavera kratzen so über das Rippenfell, das ich dich am liebsten sofort für weitere vierzehn Tage ins Bett stecken möchte ... Sonst hast du nämlich eine Entzündung und darfst sechs Wochen zu hause bleiben.”
Zu Sarahs großem Erstaunen hörte sie ein kooperatives ‚Einverstanden!’. Sie wich einen Schritt zurück und blickte den General entsetzt an: „Wie bitte?”
„Ich bin einverstanden und verspreche dem klugen Doktor, bis Mitte Dezember ganz brav zu sein!” Arthur spürte selbst, daß es vernünftiger war, sich nicht mit aller Gewalt zu überfordern, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Vierzehn Tage früher, oder später in Cadiz anzukommen, konnte das Schicksal des Feldzuges auf der Iberischen Halbinsel nicht mehr beeinflussen. Aber er konnte es! Nur dafür brauchte er mehr Kraft, als er in diesem Augenblick hatte.
Die nächsten zwei Wochen über konstatierte Dr. Lennox, daß der alliierte Oberkommandierende sich wirklich an sein Versprechen hielt: Elmore und Kopenhagen erfreuten sich ruhiger Tage im Obstgarten des Hauptquartiers, wo sie warm unter dicken Wolldecken verpackt, das letzte Fallobst vernichteten. Aus den geplanten wilden Jagdausflüge mit Tom Picton und John Colborne, die beide gesundheitlich auch nicht ganz auf der Höhe waren, wurde beschauliche Spaziergänge über den Marktplatz, bis zum einzigen Kaffee von Freneida. Arthur überwand sich sogar dazu, nicht mehr bereits um fünf Uhr morgens aus den Federn zu hetzen, um sich sofort auf die Arbeit zu stürzen ...
Der Stab und das 33. Regiment schienen genausovernünftig wie Lord Wellington. Trotzdem hatten die Unternehmungslustigsten der Soldaten bereits einen Weg entdeckt, um etwas für ihre Gesundheit zu tun und gleichzeitig ihren mageren Sold von 1 Schilling pro Tag aufzubessern: Sie gingen angeln und verkauften ihren Fang auf den Märkten der umliegenden Bauerndörfer. Der Zeitvertreib war den irischen und schottischen Bauernsöhnen angenehm und er brachte gute Dollares ein. Die spanischen Bergbewohner selbst waren keine Angler. Erst als auf dem Tisch des Hauptquartiers ständig frischer Fisch in allen Varianten auftauchte, wurde Lord Wellington der Geschäftstüchtigkeit seiner Leoparden gewahr. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz in den Landstreitkräften des Königs, daß jeder einfache Soldat das Recht hatte, einem Handwerk oder einer anderen Arbeit nachzugehen, wenn die Armee nicht im Felde stand. Das 33. Regiment, obwohl ursprünglich als West Riding Regiment geführt und hauptsächlich durch Männer aus den Industrie- und Bergbaugebieten Lancastershires rekrutiert, hatte sich im Verlauf der letzten 15 Jahre unter einem irischen Oberst gewandelt. Da das Regiment Arthur folgte und lange in Irland stationiert gewesen war, bevor es nach Indien verschickt wurde, war der Anteil an irischen und schottischen Tagelöhner- und Bauernsöhnen inzwischen höher als der an Arbeitern aus der Unterschicht Mittelenglands. Dadurch war zwar die Disziplin wesentlich verbessert worden, aber zwei neue Probleme tauchten auf: Die Iren waren ein trinkfreudiges Völkchen und konnten an keinem Wein- oder Bierfaß vorbeigehen, ohne es anzustechen. Und die Schotten und Iren im Verband sprachen so wenig Englisch, daß sie – ähnlich wie die Connaught Rangers – von Offizieren und Unteroffizieren geführt werden mußten, die Gälisch sprachen. Was ihnen in der Armee König Georges manchmal Probleme bereitete – bei der Belagerung von Seringapatam hatte Arthur seine ganzen Befehle in der keltischen Ursprache der Inseln erteilt, sehr zur Unzufriedenheit von General Harris, der als echter Engländer kein Wort davon verstanden hatte –, erwies sich in der Beira als Vorteil. Irgendwie war der Dialekt der Bergbewohner dem Gälischen so verwandt, daß die Leoparden und ihre Gastgeber sich prächtig verständigen konnten. Als Wellington, gemeinsam mit Tom Picton, Paddy Seward und seiner kleinen Freundin Manuela auf dem Weg zum täglichen Kaffeeklatsch mit Jack Robertsons Quartett und den Ärzten über den Marktplatz schlenderte, bemerkte er im abgedeckten Dachstuhl des Bürgermeisterhauses ein ganzes Dutzend kräftiger Rotröcke, die sich eifrig am Holz zu schaffen machten, während der Alcalde – in einer unverständlichen Sprache mit Sergeant-Major Howard diskutierte. Die Szene machte ihn neugierig. Er drückte Picton den kleinen Paddy in die Hand und ging zu seinem Sergeanten und dem Alcalden hinüber. Howard hielt ein Stück Papier und erklärte irgend etwas. Als er den General kommen sah, wollte er Haltung annehmen. Arthur winkte ab und sah interessiert nach oben: „Was ist denn das, Will?”
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