Susi verdächtigte also Emma und bestätigte, als diese ins Lehrerzimmer zitiert wurde, dass sie genau diese Hose gesehen habe und sich haargenau an diese Sneakers erinnern würde. Susi spielte ihre Rolle fantastisch, ich war regelrecht erstaunt. Emma stritt alles ab und ließ ahnungslos zu, dass man ihren Rucksack durchsuchte. Sie wusste ja nicht, dass siemeinen Geldbeutel in ihrem Rucksack spazieren führte.
Während ich mir also die Tränen mit einem Taschentuch trocknete, erhob der Direktor seine Stimme und die Sekretärin gab einen erschrockenen Laut von sich.
»Frau Walker, ist das Ihr Geldbeutel?« Ich nickte verweint und nahm diesen hastig an mich. An Emma gerichtet schüttelte der Direktor nur den Kopf. »Frau Krane, stellen sie einen Schein aus, Emma Fuchs wird für einen Monat suspendiert, und rufen sie ihre Eltern an. Außerdem sollten wir die Polizei anrufen, falls Frau Walker eine Anzeige wegen Diebstahl aufgeben möchte.«
»Nein«, sagte ich sofort, schaute beschämt drein.
»Ich vergebe ihr. Wir alle machen Fehler.« Ich schaute zu Emma hinüber, die mich aus einer Hasserfüllten Fratze rot werdend anfunkelte.
Der Direktor und seine Sekretärin waren so gerührt von meiner Großherzigkeit, dass sie Emma verstärkt ausschimpften und ihr sagten, sie sollte sich eine Scheibe von mir abschneiden. Sie könnte mir dankbar sein, und, und, und. Ich war nur sehr erfreut, dass dieser Plan so gut funktioniert hatte. Auf verdächtige Weise zu gut. Plötzlich brauchte ich das mit Leon nicht mehr zu klären, der Hass von Emma war mir garantiert. Leon hatte das allerdings noch nicht so begriffen, als ich die Schule verließ und in mein Auto stieg, ohne ihn auch nur mit dem Arsch anzusehen.
Ich fuhr unter den Klängen der neusten Charthits los, bog nach rechts auf die Hauptstraße und dann nach links ab, fuhr geradeaus, in den Kreisverkehr und nahm die zweite Ausfahrt. Dann fuhr ich wieder geradeaus, die Landstraße entlang, fröhlich trällernd, denn heute Abend wollte ich saufen, tanzen, feiern.
Piep. Ein leiser Ton, er drängte sich in meine Ohren und ich konnte hören, wie jemand flüsterte. Piep. Jemand schrie, es war eine Frauenstimme. Piep. PIEP. PIEP. PIEP. PIEP!
Der gleichmäßige Ton wurde immer lauter. Dann war alles schwarz.
Ich schreckte hoch, nahm kurz einen Schemen wahr, der in das Zimmer kam, indem ich mich befand, und ich wollte mich übergeben. Ich griff nach einer kleinen Nierenschale auf dem Nachttisch und kotzte hinein. Ich kotzte und kotzte und kotzte. Grün, faserreich und schleimig. Ich übergab mich noch mal, solange, bis ich nur noch den zusammenzuckenden Magen spürte und vor lauter Erschöpfung schwer atmete.
Eine Frau im weißen Kittel drückte den Schwesternknopf und ein weiterer schriller Piep ertönte. Ich erbrach mich weiter und die Nierenschale drohte bereits überzulaufen. Da tauchte ein Arm vor meinem Blickfeld auf und hielt mir eine größere Schüssel hin, die ich mit meinem verbundenen Arm entgegennahm.
Erst nach einer gefühlten halben Stunde hörten die lauten Brechgeräusche, die ich von mir gab, auf. Doch jetzt hatte ich vor Erschöpfung Magenschmerzen und lag da, sah diese Frau im weißen Kittel vor mir und wurde schlagartig unglaublich müde.
»Frau Walker«, sprach sie mich an, »erinnern Sie sich, was passiert ist?«
Ich konnte mich kaum umblicken, die Stimme und Person verblasste und die Müdigkeit übermannte mich.
Als ich die Augen wieder öffnete, war es hellster Tag. Die Sonne schien gleißend durch ein Fenster und ich hörte den Wind durch das Einzelzimmer pfeifen. Wo zur verdammten Hölle war ich?
Eine Frau kam ins Zimmer und begrüßte mich. »Ah, Sie sind wach.«
»Ich werde einen Arzt holen«, sagte sie und rannte wie gestochen aus diesem seltsamen Zimmer. Einen Arzt? O mein GOTT, war ich etwa in einem Krankenhaus?
Ich wollte aufstehen, merkte jedoch, dass ich meine Beine nicht spürte! ICH SPÜRTE MEINE BEINE NICHT!
Ich schlug die Decke zur Seite weg. Alles was ich trug, war eine OP-Schürze, die hinten offen war. Sie war grün, ein ekelerregendes, helles Grün, und Blut klebte an ihr. Aber das Schlimmste war: Ich hatte riesige Schienen um meine Beine gewickelt. Herausstachen meine dicken gelb-orangen Füße und ich spürte sie nicht! ICH SPÜRTE NICHTS! GAR NICHTS!
Ganz ruhig, ermahnte ich mich, auch wenn das Pochen meines Herzens mich noch nervöser machte. Angeschlossen an dieses Gerät, das unentwegt piepte, steigerte ich mich nur mehr in meine Panik. PIEP, PIEP, PIEP, PIEP. WHAT THE FUCK!?
Ich wollte schreien. Ein Druck entstand und innerlich schrie ich so laut, dass die Welt erzitterte. Mein Herz hämmerte schmerzhaft gegen meine Brust, wie ein Presslufthammer auf der Straße, und Hitze stieg in meinen Kopf. PANIK, blanke PANIK!
Ich wurde von allem so sehr überwältigt, dass ich, als der Chefarzt durch die Tür kam, bereits heulend zusammengebrochen war. Mein Heulen wurde nur von dem permanenten Gepiepe des Herzmonitors übertönt. Der Arzt eilte hinaus, als er merkte, dass ich nicht ansprechbar war, und kam mit einer Spritze wieder. Er spritzte mir irgendetwas in meine Kanüle und weg war ich.
Ich wachte noch ein weiteres Mal auf. Die Sonne schien stark in mein Zimmer, es war heiß und eine Biene hatte sich in den Raum verirrt. Ich schrie nicht, obwohl ich allergisch gegen diese Tierchen war. Ich wünschte mir sogar, sie würde mich stechen!
JA! JAAA! Komm her Biene!
Ich hatte keine Lust mehr, ich wollte nicht mehr leben! Was für eine verfickte SCHEISSE!
Pflatsch, jemand hatte der Biene den Garaus gemacht.
»So, dat Vieh hamma gekillt!« Eine andere Schwester als heute Morgen stand bei mir und hielt eine gerollte Zeitung in der Hand. Sie stand breitbeinig vor meinem Bett und hatte im richtigen Moment zugeschlagen.
»Alles halb so wild«, sagte sie.
»ALLES HALB SO WILD!?«, schrie ich sie wütend an. »ICH SPÜRE MEINE BEINE NICHT!«
»Die Biene. Ik heb de Biene gemeent!«
»DIE BIENE! DIE BIENE! …« Ich fing wieder an zu heulen, langsam kam ich mir komplett idiotisch vor.
Sie reichte mir Taschentücher. »Passe mal auf, ich geh jetz und hol ma den Arzt.«
WOLLT IHR MICH EIGENTLICH VERARSCHEN!?
»Hallo Frau Walker«, sagte der Arzt, als er reinkam. Er hatte eine Glatze, kleine gedrungene braune Augen und eine kleine dicke Nase. Er trug eine Brille und hatte keine angenehmen Züge. Ich mochte ihn nicht, »So, das war alles ein wenig viel«, begann er locker. VIEL? VIEL! OH, EIN BISSCHEN VIEL!
BLÖDER PENNER!
Ich biss auf meine Unterlippe, da spürte ich eine Kruste.
O MEIN GOTT!
»Erinnern Sie sich an irgendetwas?«, fragte er.
SO EIN IDIOT! WIESO FRAGT MICH DAS JEDER?
»N… nein«, stockte ich. Allerdings konnte ich mich in Wirklichkeit an so Einiges erinnern.
Ich wurde geschleudert. Ich konnte mich erinnern, wie irgendetwas meinen Körper in die Schwebe versetzt hatte. Es war merkwürdig. Vielleicht durch die Wucht des Aufpralls und die Fliehkraft. Das erklärte aber nicht das Gefühl, als wäre jemand dagewesen. Als hätte mich etwas gepackt und mir den Hergang von oben demonstriert. Beängstigend und so irre, dass ich für eine solche Geschichte in der Psychiatrie landen könnte. Oder man würde mir sagen: »Schleudertrauma.«
»Sie haben eine leichte Gehirnerschütterung«, sagte er als Erstes. Er kam herüber und sah in mein Gesicht. Leuchtete in meine Augen. Dann nahm er eine dünne Wundauflage von meinem Gesicht ab.
»Frau Ehert …« Mehr musste er nicht sagen und die Schwester, die eben in einem seltsamen Dialekt gesprochen hatte, war weg und kam später mit allem Benötigten zurück.
»So, Ihr Gesicht … Nein, fangen wir mit dem an, was nicht so gravierend ist: Ihre Beine …« Mein Hirn raste. MEINE BEINE WAREN NICHT SO SCHLIMM WIE MEIN GESICHT?
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