In der Pause – die ich als Zeitverschwendung empfand – kamen die Mädchen unserer Stufe, die versuchten mir nachzueifern, in einer kleinen Gruppe zusammen. Susi und Yvonne waren auch darunter und aßen gemeinsam ihre Brote und was sie sonst so dabeihatten. Ich hingegen aß in der Schule nie etwas.
Alles was ich brauchte, war genug zu trinken.
Statt nur zu essen, nutzten wir die Pause, um in den neuesten Zeitschriften zu blättern, die aktuellen Modetrends anzuschmachten oder über die Probleme der anderen zu diskutieren. Einige der Mädchen, die auch zu meinen Freunden zählten, redeten gerade über einen Sex-Artikel in der Glamour. Mein Interesse an Sex war eher mäßig, deshalb verzog ich mich in jenem Moment ganz schweigsam. Musste ja nicht jeder wissen, dass ich hinter Leon her war.
Ich schlenderte gelassen vom Schulhof und ging auf den nahegelegenen Parkplatz, der zum angrenzenden Schwimmbad gehörte. Dort stand Leon in seiner Rauchergruppe, darunter auch ein paar schäbig gekleidete Mädchen. Leon gab sich mit diesen Leuten nun mal ab, auch wenn ich wusste, dass er aus einem höher gestellten Haushalt stammte. Zwar war sein Vater nicht so gut bezahlt wie meiner, aber trotzdem reichte es, um ihn meinem Stand zuzuordnen. Vorübergehend und ausschließlich als Übungsobjekt sollte er genügen.
Leon war erst seit einem Jahr auf unserer Schule und eigentlich hegte ich noch nie ein sonderlich großes Interesse am anderen Geschlecht., wenn man bedachte, was für Idioten hier so herumliefen. Leon sah gut aus, was bereits sein Potenzial steigerte, benahm sich jedoch widerlich, was sein Potenzial wieder senkte. Eigentlich sprach vieles gegen ihn und ich könnte sagen, dass ich ihn trotz alledem für meine große Liebe hielt. Jedoch stimmte das absolut nicht.
Aufregung und damit verbundenes Herzklopfen?
Nicht im Geringsten.
Liebe?
Nein.
Aber die Tatsache, dass Emma in ihn verliebt war?
Einfach grandios!
Noch nie hatte ich mich so gefreut, etwas Delikates herausgefunden zu haben wie darüber, dass Emma in Leon verliebt war. Für eine alte Tasche von Gucci hatte ich ihre beste Freundin Stella zum Reden gebracht. Was ist schon eine Gucci Tasche im Vergleich zu solch famosen Auskünften?
Ich hatte die Information benötigt, um die lästige Klette endlich loszuwerden, denn egal, wo wir hingingen, Emma war nicht weit. Ich konnte diese abnormale Gestalt nicht mehr ertragen.
Ich begrüßte Leon und die anderen freundlich, denn ich hatte lange gebraucht, um mich in diese Gruppe einzuschleichen. Ich nahm mir sogar eine meiner Zigaretten heraus, um ein wenig daran zu ziehen. Ich versuchte den Pegel unten zu halten und seit einiger Zeit wieder vom Nikotin wegzukommen. Schwerer als man denkt …
Lange hatte es gebraucht, aber jetzt war ich mit jedem hier befreundet und hörte mir sogar die Probleme der Mädchen an, obwohl es für mich eine einzige Qual war. Doch nichts bereitete mir mehr Freude, als dieses Gefühl, endlich in Emmas leidendes Gesicht blicken zu können.
Leon und ich sprachen auch ab und zu miteinander, und dann kam jener Moment, auf den ich so lange hingearbeitet hatte. Viele seiner Muskeln hatte ich sanft berühren und loben müssen. Oft hatte ich meine Haare zurückwerfen und mit den Augen dumm klimpern müssen. Beinahe jeden Tag hatte ich die Leute ertragen müssen. Doch endlich war es so weit:
»Kannst du mir morgen nach der Schule in Mathe helfen?«, flüsterte er mir ein wenig verstohlen zu.
Ich willigte ein. Mathe war ja schließlich ein Codewort für ein Date, denn wer brauchte schon Hilfe in Mathe?
Natürlich könnte ich euch jetzt mit meinem tollen Leben in meiner Villa nerven. Groß erzählen, wie ich meinen Tag so verbringe. Größtenteils bin ich aber in der Schule oder nehme meine vielen außerschulischen Aktivitäten wahr, wie etwa Reiten, Synchronschwimmen, Cellounterricht, Klavierunterricht, Kunstunterricht und meine Arbeit als Model.
Ich könnte euch natürlich ebenso von meinen geheimen Vorlieben erzählen, darunter das nächtliche Lesen von Mangas. Doch lassen wir Einzelheiten lieber achtlos links liegen.
Alles was ihr Wissen müsst: Jeder Tag war genauso wie der andere. Vollgepackt. Ich hatte zwischen Schule und Freizeitaktivität genau zwei Stunden, die ich nicht mit Essen verschwendete. In der Zeit kümmerte ich mich um zu erledigende Hausaufgaben oder nahm Gelegenheiten, wie diese eine mit Leon, wahr. Und wenn der Tag dann zu Ende ging, ich ‒ neben dem Üben für meine Hobbys, dem Lernen und den Hausaufgaben ‒ noch ein wenig Zeit für mich selber hatte, dann ging das Ganze auch schon wieder von vorne los. Bei diesen Abläufen sah ich die anderen Familienmitglieder, darunter meinen Bruder und meinen Vater, nur an den Wochenenden, meine Mutter manchmal abends ab sechs Uhr, wenn sie von der Arbeit heimkam. Doch diese Routine war verglichen mit dem Date, das ich mit Leon haben würde, schlichtweg irrelevant. Spulen wir also vor:
Wecker. Aufstehen. Anziehen. Essen. Badezimmer. Make-up. Frisieren. Schreibtisch. Tasche. Schulsachen. Check. Schuhe. Vergessen. Schon so spät? Runtergehen. Flur. Garderobe. Mantel, Jacke, Collegejacke, Parka, Trenchcoat? Scheiße, wie viel Uhr? Egal. Jacke. Khujo. Schlüssel packen. Muss noch tanken. Tanken. Schule. Chaos. Menschen. Kinder. Raucher. Auto. Fahrrad. Roller. Eile. Schneller. Erste Stunde. Zweite. Dritte. Pause. Laut. Essen. Reden. Mädchen. Kram. Zeug. Leon. Reden. Einladungen. Geburtstage. Geburtstage? Stopp!
Ich erhielt an diesem Tag sogar zwei Einladungen.
Eine von Leon. Peinlich, denn ich wusste gar nicht, dass er diesen Monat Geburtstag hatte, und das, obwohl ich dachte, ich hätte mich bestens über ihn informiert!
Die andere Einladung kam von einer Freundin aus meiner Clique. Sie hieß Mindy und war ein echtes Großmaul. Wenn sie etwas sagte, wusste man, dass in ihrem Mund ein Haufen Scheiße zeltete, wodurch sie die abartigsten Wörter nur so aus sich heraussprudeln ließ. Sie sprach nicht richtig, sondern mit einem schrecklichen Gossenslang. Ausdrücke wie: „Ey“, „Jo“ und „Nä, ne?“, fanden sich zusammenhangslos in, vor und am Ende jedes Satzes wieder. Eine einzige Katastrophe, aber ich gab mich mit ihr ab, denn die anderen Mädchen wurden alleine durch ihr korpulentes Erscheinungsbild aufgewertet.
Mindy und Leon tuschelten miteinander über ihre Geburtstage, obwohl wir zusammen in der Gruppe standen. Beinahe so, als hätten sie etwas zu verheimlichen. Ich beäugte die beiden misstrauisch, aber nur ab und an. Solange, bis sie dann verkündeten, dass ihre Geburtstage an unterschiedlichen Tagen stattfinden würden, was aber offenkundig war, denn das stand auch auf den Einladungskarten.
Nun, mir sollte das egal sein, ich hatte keinen Anlass, mich groß in etwas reinzusteigern, schließlich gab es eine andere wertvolle Tatsache, die ich feierte. Ich konnte mir Leon endgültig schnappen und auf den beiden Partys ein eindeutiges Foto ergattern, mit dem ich Emma in die Schranken verweisen konnte. Wenn ich auch nur ein Bild bekäme, könnte ich es entweder auf Facebook, Twitter und Instagram posten oder direkt an Emma per WhatsApp schicken oder wieso nicht gleich in ausgedruckter Form per Post?
Dann konnte Emma sich das Bild einrahmen, um nicht zu vergessen von wem sie sich besser fern halten sollte.
Das wäre dann wohl der schönste und bisher beste Tag meines Lebens!
Ich ergötzte mich an dem Gedanken und strahlte bis zum Ende des Schulunterrichts in einem durch. Vielleicht konnte ich bereits heute meinen Triumph feiern!
Doch … als wir uns zum Mathe Lernen trafen, „zwinker“ … „zwinker“ … Haha … als wir uns also zum Mathe Lernen im Aufenthaltsraum unserer Stufe trafen …
da … lernten wir tatsächlich MATHE!
Leon war eine totale Niete in Mathe! Ein echter Idiot!
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